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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Sternenlicht die Stunden ab, und mein Herz flattert wie ein Vogel in einem Käfig. Die Erde birgt keinen Raum mehr für mich. Ein Nichts soll mein Alles sein. Bald werde ich nichts anderes mehr zu tun haben, als zu träumen. Ein fernes Jahrhundert wird 435
    meiner Seele einen unversehrten Körper schenken, meine Augen öffnen für neue Farben und Klänge. Darauf warte ich ohne Unruhe, mit einer Geduld ohne Grenzen. Erzähle Kunsang nicht das Schlechte, nur das Gute von mir. Ich bete für ihre Zukunft, für ihr Glück. Entlaste mich vor meinen Eltern und sage meiner Schwester, daß ich sie immer vermißt habe. Glaube nicht, daß ich traurig bin.
    Das Leben kehrt wieder, unsere Seele wird sich erinnern; ich weiß, daß ich dich immer finden werde.«
    »Atan«, flüsterte ich.
    Er rührte sich nicht. Sein Gesicht lag im Schatten. Etwas in meinem Kopf pochte und glühte. Der Schmerz wuchs, ein Feuer in Brust und Kehle, und ich wußte, daß er sich nur in Tränen lösen würde. Fassungslos, betäubt, wischte ich mir den Schleier aus den Augen.
    »Atan«, wiederholte ich.
    Er wandte mir langsam das Gesicht zu. Der Kummer hatte seine Züge zu einer düsteren Maske erstarren lassen. Die Haut um seine Augen war dunkel und gespannt; fast war mir, als liege ein Lächeln auf seinen Lippen. Aber dann erkannte ich, daß der gekrümmte Mund Schmerz zeigte. Nach einer Weile zog er die Lider zusammen.
    Er wischte sich die Augen mit einer Hand; sein Blick klärte sich, ich merkte, daß er mich wieder wahrnahm. Es kostete ihn viel Mühe zu sprechen, doch seine Stimme klang ruhig, als er sagte:
    »Wir reiten nach Shigatse. Und holen das Kind.«
    436

55. Kapitel

    B ei Sonnenaufgang machten wir uns auf den Weg. Wir hatten Abschied von Ani Wangmo genommen; ohne das Geld, das wir ihr da ließen, hätte sie nicht zu ihrer Cousine reisen können. Sie war völlig mittellos, aber zu stolz, um unsere Hilfe zu erbitten. Sie umarmte und segnete uns wie eine Mutter. Ihre gebückte Gestalt erfüllte mich mit Wehmut. Im früheren Tibet hätte ich sie in mein Haus genommen; sie hätte bis an ihr Lebensende weder Hunger noch Einsamkeit gekannt. Diese Zeiten waren nicht mehr. Wie anders als mit Dankbarkeit konnte ich ihre Treue vergelten?
    Der Tag erwachte im Nebeldunst. Wolken verhüllten die Eisenbrücke und die Telefonmasten, die flachen Häuser, die steilen Mauern des Potala, die frisch vergoldeten Heiligtümer. Der Fluß, der Chodonlas bleiche Gestalt über die Sandbänke getragen hatte, brauste unter den Nebeln. Leb wohl, Stadt in Grau. Ich werde dich nie wiedersehen, nicht in diesem Leben. Lebt wohl, farbloser Beton, kachelhelle Fassaden, Bagger und Lastwagen, protzige Toyota-Jeeps, schreiende Lautsprecher. Ich komme nicht wieder. Die Chinesen haben den Traum der Technokraten verwirklicht, den blinden Gärtner hergebracht und die Rose ohne Duft. Ich wollte glauben, daß ihr Traum begrenzt war, daß ein Anderswo hinter den Wolken wachte. Ich war zu spät nach Lhasa gekommen. Das Unklare, das Schmerzvolle kann einen Augenblick täuschen. Aber auch in der Verspätung lag ein Sinn. Das Ungewisse war scheußlich jetzt. Dieser Druck, diese Last auf dem Herzen. Du bist schon so alt, Kunsang, daß du alles vermuten kannst. Es mußte ja vorkommen, daß dich die Angst packte. Und du hättest schwerlich vermeiden können, mit ihm zu gehen, wirklich. Reiten, immerzu reiten, mit eisigen Flüssen, das Gesicht von Staub verbrannt, rissig vor Kälte.
    Gewundene Pfade am Rande der Abgründe, Schritt für Schritt vorwärts; am Fuß granitener Säulen, im Schatten von Felsen, höher als Türme. Den Hauch erstarrter Gletscher atmen, während Stunden vergehen und die Sonne die Nacht in ihre Herzen trägt. Am Horizont glänzten die Achttausender, der Everest Range, die höchsten Berge der Welt. Hier war alles Staub und Geröll. Gab es überhaupt noch irgendwo Bäume, Wiesen, Blumen? Bestand die Welt nicht einzig aus der Substanz der Berge, die den Atem der Ewigkeit zu Asche zermahlte? Manchmal klebten Dörfer an den Hängen. Die Sonne 437
    funkelte zwischen den Ästen entlaubter Nußbäume, und wispernde Winde strichen über die Felder. Hier gab es keine Traktoren; Yakgespanne zogen die Pflüge, welche den Boden lockerten. Hier sichelten die Frauen noch das Getreide wie vor Jahrhunderten, und zum Dreschen wurden Maulesel im Kreis geführt. In der Ebene verlief endlos und schnurgerade die Straße. Die Straße der Dämonen, nannte sie Atan, mit schiefem Lächeln. Ich

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