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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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verkaufen, wenn ich in Not sei. Sie sah entsetzlich aus. Ihr Taschentuch war voller Blut, und der Husten zwang sie ein paarmal auf die Knie. Ich hatte große Angst, aber sie versuchte zu lächeln. Es sei nur zur Vorsicht, und ich sollte mir keine Sorgen machen. So ging ich denn.«
    Atan preßte die Lippen zusammen und schwieg. Ani Wangmo fuhr mit dem Handrücken über ihr tränenfeuchtes Gesicht. Vier Tage später kam ein Vernehmungspolizist und forderte sie auf, die Leiche einer Frau zu identifizieren, die man im Kyischu gefunden hatte. Es war Chodonla. Die Ermittler stellten Selbstmord fest.
    »An manchen Stellen ist der Fluß sehr tief«, Ani Wangmos Stimme brach. »Sie hatte ziemlich lange im Wasser gelegen. Sie…
    sie sah nicht mehr so aus wie früher. Ich sagte Kunsang, ihre Mutter sei schon lange krank gewesen. Ihr sei schlecht geworden, als sie spazieren ging, und sie sei ertrunken. Die Wahrheit… die Wahrheit konnte ich ihr nicht sagen. Es ist entsetzlich, sich das Leben zu nehmen!« flüsterte Ani Wangmo, mit bebenden Lippen.
    Ich kniff die Augen zusammen. Ich wollte den Blick nicht auf etwas Bestimmtes richten. Meine Schwester war tot. Kein Wort, kein Lächeln würden wir jemals teilen. Wasser hatte uns damals entzweit, und Wasser hatte die Trennung endgültig vollzogen. Ihr Geist und mein Geist wehten durch zwei Welten, ohne sich zu berühren; beide Welten waren real, aber es gab keine Brücke. Wir konnten uns nur in Träumen begegnen.
    Dann hörte ich Atans Stimme, sie schien von weither zu kommen.
    »Sie hat das jetzt alles hinter sich gelassen.«
    Mein Blick klärte sich. Ich sah das dumpfe Elend auf seinem Gesicht, die Wut und die Verzweiflung in seinen Augen. Ich flüsterte rauh:
    »Was vielleicht noch wichtiger ist, Atan: Ich spüre, daß sie hier steht, ganz nahe bei uns… «
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    Er senkte seinen schweren Blick auf mich und nickte.
    Ani Wangmo sprach weiter. Sie war zur Vernehmung geladen worden. Man teilte ihr mit, daß Chodonla mit den Nationalisten in Verbindung gestanden und sicherheitsgefährdende Nachrichten weitergegeben hatte. Ani Wangmo wurde geschlagen und verhört.
    Die Polizisten durchsuchten das Zimmer, fanden das Geld und das Bild Seiner Heiligkeit. Das Foto galt als Beweis für Chodonlas Schuld. Das Geld wurde konfisziert. Ein Polizist riß Kunsang die Korallenkette vom Hals. Ani Wangmo rechnete täglich mit ihrer Verhaftung, die zur Folter und zur Hinrichtung führen würde. Doch sie mußte lediglich einen Schein unterschreiben und sich verpflichten, Lhasa nicht zu verlassen. Das Kind durfte bei ihr bleiben; man ließ sie wissen, daß die Vormundschaftsbehörde den Fall übernehmen würde.
    Atan, dessen Gesicht zu einer düsteren Maske erstarrt war, fuhr leicht zusammen und blinzelte.
    »Und Kunsang? Wo ist sie jetzt?«
    Ein paar Tage später, sagte Ani Wangmo, erschien ein Polizist, diesmal in Begleitung von Sun Li. Er sprach zu ihr sehr freundlich und mitfühlend, bedauerte Chodonlas Tod. Es waren die Behörden, die ihn benachrichtigt hatten. Er war gekommen, um das Kind zu holen. Man hatte ihm das Sorgerecht für Kunsang bewilligt. Der-Fall sei ziemlich heikel gewesen, aber die Behörden hätten Verständnis gezeigt. Kunsang sei zur Hälfte Chinesin und solle im Mutterland erzogen werden. Sun Li erklärte, daß sein Vertrag bald auslief. Er hatte seine Dienstwohnung für seinen Nachfolger freigemacht, und sein Aufenthalt in Shigatse war nur eine Frage von Wochen.
    Ich streichelte Ani Wangmos Arm, eine weiche lockere Haut über den zerbrechlichen Knochen. Ihre gequälten Augen suchten Atans Blick.
    »Ihr müßt wissen, wie es gewesen ist, Herr. Kunsang hatte seit Chodonlas Tod nur geweint. Sie weigerte sich, Herrn Sun zu begleiten. Sie sagte, daß sie auf ihren Onkel warten wollte.
    »Meine Amla hat gesagt, er geht fort, aber er kommt immer zurück. Er wird mir ein Pferd mitbringen und mit mir über die Pässe reiten.«
    Sie lebte in dieser Hoffnung. Sie fragte immer wieder: »Wo ist er?
    Wann kommt er endlich?« Jedesmal, wenn Lärm im Treppenhaus war, riß sie die Tür auf: »Mein Onkel ist da! «
    Doch ich sagte zu ihr: »Er kommt, wenn es dunkel ist, das weißt du 433
    doch. Du hörst nichts – kein Geräusch. Und plötzlich steht er vor dir.« – »Ja, das stimmt«, sagte Kunsang. »Er kommt ganz leise die Treppe hinauf.«
    Sie wartete Abend für Abend, stand am Fenster und spähte durch die Zeitungen. Mitten in der Nacht rüttelte sie mich wach. »Ani Wangmo! Hör

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