Die Tibeterin
Schärfe, den solche Männer manchmal annehmen, wenn sie in Gedanken an früher die zukünftigen Gefahren abwägen.
Schließlich sagte er:
»Ich muß mir das Gelände ansehen. Und dann werde ich mir einen Plan zurechtlegen. Ich bin ganz geschickt in diesen Dingen.«
Ich spürte einen Kloß im Hals.
»Ich weiß, daß du ganz geschickt bist. Aber was könnten wir sonst tun?«
»Nichts. Vielleicht weiter nachdenken.«
Und weiter ging die Reise, über Bergwege, Kämme und Geröllhalden. Die Ausdauer der Pferde war unermüdlich. Auf der Straße kam ein Treck holzbeladener Lastwagen in Sicht. Sie schaukelten, bremsten, blieben in Schlaglöchern stecken. Geplatzte Reifen mußten ersetzt, bedrohlich schwankende Wagenladungen neu befestigt werden. Wir – fast unsichtbar in der Weite der Landschaft –
kamen schneller vorwärts. Doch die Kälte nahm zu. Böen, scharf und schneidend, zwangen uns immer wieder, uns tief in den Sattel zu ducken. Oft mußten wir anhalten und mit den Füßen kräftig stampfen, um das Blut wieder in die Zehen zu treiben. Weit vor uns, in der klaren Luft, glänzten die ersten Ausläufer des Kyetrakgletschers, Vorboten der Eiswelt. Wolken jagten über Steinwüsten dahin, die Sonne schien wie durch ein Brennglas.
Zwischen Lhasa und Shigatse lagen rund vierhundert Kilometer. Wir schafften die Strecke in neun Tagen, immer oberhalb der Straße, von einem Seitental ins andere, tief unter uns die Ebene mit dem schäumenden Flußband, seinen Stromschnellen und den weiten Schotterflächen, die im Frühjahr und Sommer überschwemmt wurden.
Am Kahmala Paß wehte Schneewind. Auch hier hatten Pilger die Lahrtsen – die Gebetsheiligtümer – mit weißen Steinen errichtet. Wir 440
begegneten einigen von ihnen, Männern und Frauen, auf Mauleseln oder zu Fuß, die – aus welchen Gründen auch immer – die alte Piste bevorzugten. Wir grüßten einander, tauschten ein paar Worte, sprachen Segenswünsche aus. Ich verteilte Medikamente. Der Paß war die Grenze zwischen den Provinzen U und Tschang; der Abstieg nach Shigatse begann.
Ich war sehr unruhig in dieser Zeit; mein ganzer Körper war in Aufruhr. Es ging nicht weiter, es konnte nicht so weitergehen.
»Wenn ich nachdenke, krepiere ich«, sagte ich mir, und dachte lieber nicht. Ich hatte keine Vorstellung von Shigatse, Tibets zweitgrößter Stadt, dem Sitz des Panchenlamas. Die Altstadt mit den flachen, rostroten Lehmhäusern war gut erhalten, wenn sich die chinesische Planungswut auch hier in baumlosen Plätzen, unfertigen, dachlosen Bauten und schnurgeraden Straßen zeigte. Trotz Abgasen, Lärm und Discomusik war Shigatse eine heilige Stadt. Gebetsfahnen, auf Schnüren gereiht, flatterten über dem Verkehr. Die mehrstöckigen, weiß getünchten Mauern des Tashilumpo-Klosters, die ehemalige Residenz den Panchenlamas, ragten wie eine Skulptur am Berghang.
Die vergoldeten Tschörten funkelten; auf den Dachterrassen leuchtete rot die Glut schwelender Weihrauchopfer. Die Masse der kupfernen Dächer stieg in Kaskaden empor, zeigte, was Tibet früher war, was Tibet nie mehr sein würde: ein Hort der Seele. An einer Felswand wurde an hohen Feiertagen das größte Rollbild der Welt entfaltet. Gut restauriert, und den Touristen vorgeführt. Man hatte den Mönchen gesagt: »Ihr dürft wieder eure alten Bräuche aufnehmen, wir erlauben es euch.« Was für die Tibeter den Himmel auf Erden zeigte, brachte den Chinesen Profit.
»Früher«, sagte Atan, »hatten die Rotgardisten alle Mani-Steine mit Mao-Sprüchen beschmiert. Man hat sie entfernt. Die Chinesen haben bemerkt, daß die Touristen nichts dafür übrig hatten.«
Auch die Gold- und Silberschmiede durften wieder in sogenannten
»volkseigenen Betrieben« ihre Kunst ausüben. In den Produktionsräumen begegnete man ehrwürdigen alten Meistern und ganz jungen Lehrlingen, aber kaum Vertretern der mittleren Generation. Die Rotgardisten hatten begnadete Künstler auf die Felder geschickt, um Weizen für ihre Nudeln anzubauen.
Das Kraftwerk befand sich im Tal, unweit des Flusses. Die Sonne brannte grell, und im Schatten war es eiskalt. Im Wasser zogen einige Ghawas – Boote aus Yakhäuten – vorbei. Am Ufer flatterten Gebetsfahnen an hohen Stangen, einige erhoben sich sogar mitten im 441
Wasser.
»Man hat sie neu aufgestellt«, sagte Atan. »Für die Touristen natürlich.«
An einer Biegung führte eine moderne Betonbrücke über den Tsangpo. Gleich dahinter befand sich das Kraftwerk. Der Schornstein,
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