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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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doch! Ist er gekommen?« – »Noch nicht, mein Liebes, beruhige dich. Er wird kommen. Sehr bald.« Und sie sagte:
    »Du darfst nicht schlafen, Ani Wangmo. Du mußt wach bleiben, damit du ihn hörst.« Ich versprach es. Und so lag ich wach und lauschte auf jedes Geräusch. Ich höre nicht mehr so gut wie früher, deswegen… «
    Ani Wangmo seufzte.
    »Kunsang erzählte das alles ganz unbefangen, Herr. Sie wußte nicht, daß sie Dinge sagte, die Euch in Gefahr bringen konnten. Zu alldem lächelte Herr Sun Li verständnisvoll. Er meinte, es sähe leider so aus, als ob der Onkel sein Versprechen vergessen hätte. Sonst wäre er ja längst gekommen, nicht wahr? Es wäre zwecklos, auf ihn zu warten, das müsse Kunsang doch einsehen. Bald würde sie mit dem Flugzeug nach China fahren, und da gäbe es interessantere Dinge als bloß Pferde. Er bedauerte auch, daß man ihr die Kette genommen hatte. Doch sie solle nicht traurig sein: in China würde er ihr eine schöne Armbanduhr kaufen. Kunsang nahm schweigend seine Worte auf; doch ich merkte, daß er sie überzeugt hatte. Der Fahrer wartete schon im Hof. Kunsang erlaubte mir nicht, ihr bei den Vorbereitungen für die Reise zu helfen. Sie nahm nur das Nötigste mit. Sie sagte: »Meine Sachen sind nicht schön genug für China.«
    Ich umarmte meine Kleine ein letztes Mal, und sie stieg mit Herrn Sun Li in den Jeep. Als sie zum Abschied winkte, sagte Herr Sun Li etwas Lustiges, denn ich sah, daß sie lachte. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie nicht mehr gelacht. Ich war traurig, glücklich und besorgt zugleich. Ich habe kein Geld und wußte, daß ich das Zimmer nicht behalten konnte. So fragte ich den Polizisten, ob ich jetzt Lhasa verlassen dürfte. Ich habe eine Cousine auf dem Land, bei der ich unterkommen kann. Der Polizist war kein böser Mensch; ein paar Tage später bekam ich die Erlaubnis.«
    Sie putzte sich die Nase mit dem Taschentuch, das ich ihr gegeben hatte, und richtete die Augen wieder auf Atan.
    »Doch ich wollte Ihre Rückkehr abwarten, Herr. Chodonla hatte mir einen Brief für Euch anvertraut. Ich hatte ihn gut versteckt. Die Polizisten haben ihn nicht gefunden.«
    434
    Sie stützte sich auf meinen Arm, um auf die Beine zu kommen, schlurfte mühsam durch das Zimmer; ihr Schatten glitt über die Wand, die mit vergilbten Zeitungen beklebt war, über den kleinen, mit rotem Seidenstoff bespannten Altar. Sie trat zum Fenster und beugte sich hinaus. Zwischen dem Rahmen und der Betonmauer war ein winziger Spalt. Ani Wangmo schob ihre knochigen Finger hinein, zog einen dünnen Umschlag hervor, den sie Atan überreichte.
    Auf dem Umschlag stand kein Name. Er nahm den Brief, riß den Umschlag auf und las ihn mit unbewegtem Gesicht. Dann reichte er mir wortlos den Brief. Ich sah, daß Chodonla die tibetische Schrift nur mangelhaft beherrschte.
    Chodonla war vorsichtig; der Brief begann ohne Anrede.
    »Allem Anschein nach hat mich jemand denunziert. Nach der Demonstration sind viele verhört worden. Ein Verhafteter hat meinen Namen genannt. Ich werde nie wissen, wer es war. Es ist das Ende. Sie werden mich holen, unmöglich, daß es anders sein wird.
    Ich stelle fest, daß ich seit jeher darauf gefaßt war. Aber ich kann es nicht ertragen, nicht noch einmal. Ich bin zu krank, ich habe keine Kraft mehr. Es kann sein, daß ich versage. Sie haben die Mittel dazu.
    Dann sind alle in Gefahr – auch du. Ich habe mich entschieden, nichts zu riskieren. Nun vertraue ich dir mein Kind an, wie ich dir mein Leben anvertrauen würde. Sie ist der Herzschlag meines Lebens, die Kraft, die mich atmen läßt. Meine Eltern und meine Geschwister sind in Europa, in der Schweiz. Aus Gründen, die dir bekannt sind, habe ich nie Verbindung mit ihnen aufgenommen. In letzter Zeit habe ich oft an meine Schwester Tara gedacht. Ich möchte glauben, daß sie mein Kind nicht im Stich lassen wird. Die Schweizer Botschaft in Kathmandu wird dir ihre Adresse vermitteln.
    Ich habe Kunsang etwas Geld hinterlassen; verwende es, wie du es für richtig hältst, um das Kind aus Tibet zu schaffen. Gib gut auf dich acht! Die Chinesen ziehen an einem Faden; bald reißt das ganze Netz. Aber du wirst durch die Maschen schlüpfen, wie immer. Leb wohl. Du weißt ja, unser Glauben verbietet, sich das Leben zu nehmen. Aus Strafe wird die Linie der Wiedergeburt unterbrochen.
    Nun, ich habe kein Verlangen mehr, zu fühlen und zu denken. Die Wand zwischen Jetzt und Niemehr ist hauchdünn und durchsichtig.
    Ich messe am

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