Die Tibeterin
vierzig Grad Fieber haben. Das würde jetzt ein paar Stunden so weitergehen. Dann würden auf die eisige Kälte eine intensive Hitze folgen und noch größerer Durst. Ich sagte zu Kunsang:
»Sieh zu, daß wir ausreichend Wasser haben.«
Ich trank auch einen Becher, ohne meinen Durst zu löschen.
»Hör zu, Atan. Ich werde jetzt die Kugel entfernen. Die steckt im Knochen, du hast Glück, daß sie nicht in der Kniescheibe sitzt. Ich gebe dir eine Injektion. Dann wirst du schlafen, und ich kann in Ruhe arbeiten.«
Er öffnete die Augen, aber nur einen Spalt. Ich holte das Morphium aus dem Erste-Hilfe-Kasten. Es waren sechs kleine Ampullen in der Schachtel. Kunsang sah aufmerksam zu, wie ich die 464
Glaskappe zerbrach, die Kanüle freilegte. Ich rollte Atan den Ärmel der Tschuba auf. Er ließ den Blick nicht von mir ab, als ich ihm die Kanüle in den Arm schob. Als ich fertig war, legte ich behutsam meine Hand auf seine Stirn.
»Schlaf!« sagte ich.
Er schloß die Augen, entspannte sich. Ich wartete noch eine Weile, bevor ich mich aufrichtete. Kunsang blickte verstört zu mir empor.
»Und jetzt an die Arbeit«, sagte ich. »Willst du mir helfen?«
Sie nickte stumm. Ihr aufgeschürftes Gesicht war weiß wie Elfenbein, mit blauen Schatten unter den Augen. Schweiß bedeckte ihre Stirn, und sie atmete schnell. Doch sie blieb bei mir, bis zum Schluß, reichte mir die Instrumente, wie ich es ihr sagte, und wandte kein einziges Mal die Augen ab.
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58. Kapitel
E s war Nachmittag, als Atan erwachte. Ich hatte die Kugel entfernt, den Bruch gerichtet, so gut ich konnte. Dann hatte ich das Bein mit einem steifen Verband umwickelt und mit zwei festen, ebenmäßigen Stäben befestigt. Die Kopfverletzung hatte ich genäht und verbunden. Sie würde eine Narbe bis zur Schläfe bilden, aber von selbst heilen. Das Fieber war noch hoch, aber der Puls ging regelmäßig. Was mir nicht gefiel, war die Gehirnerschütterung; offenbar war sein Sehvermögen gestört, und er hatte zu viel Blut verloren. Ich beugte mich über ihn, als er die Lider öffnete. Ich hatte genügend Wasser vorbereitet und gab ihm zu trinken, wobei ich ihn zwei Codeintabletten schlucken ließ. Langsam kam er wieder zu sich.
»Wie fühlst du dich?« fragte ich.
Er verzog die farblosen Lippen.
»Fabelhaft!«
»Hunger?« fragte ich.
Er nickte. Kunsang hatte warmen Tee mit Tsampa vorbereitet; Atan trank, doch nur wenig. Er hatte noch zu hohes Fieber und versank wieder in einen schläfrigen Zustand, aus dem er erst wieder nach einer Weile erwachte.
»Tara?«
Ich beugte mich über ihn.
»Ja, Atan. Bleib ruhig liegen.«
Sein Gesicht war schrecklich zugerichtet, sein rechter Augenbrauenbogen so stark angeschwollen, daß er kaum das Lid heben konnte. Ich legte mich dicht neben ihn, damit er sich beim Sprechen nicht zu sehr anzustrengen brauchte. Er formte jedes Wort mit Mühe.
»Das hier… ist nicht gut. Ich kann nicht mehr… richtig denken.«
»Gehirnerschütterung«, sagte ich. »Das haut jeden um. Ein paar Tage Ruhe, und es gibt sich.«
Er blinzelte und fuhr fort:
»Die Chinesen werden… eine Zeitlang nervös sein. Sie werden einen Steckbrief herausgeben. Kunsang muß… ihr Haar schneiden.«
Er sah zu dem kleinen Mädchen hinüber, das unwillkürlich mit beiden Händen durch ihr Haar fuhr. Atan deutete ein Lächeln an.
»Es wächst nach.«
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Ich nickte.
»Gut. Ich habe eine Schere.«
Atan atmete gepreßt, sammelte seine Kräfte. Dann sagte er:
»Tara, du mußt fort von hier.«
Ich fuhr zusammen.
»Ohne dich?«
»Ich kann nicht reiten… wie sonst. Wir kommen zu langsam vorwärts. Du mußte über den Nagpa La, bevor… der Schnee einsetzt…«
Ich schüttelte wirr den Kopf. Meine Gedanken überstürzten sich.
»Atan… ich komme nicht allein über den Paß.«
Seine Augenlider flackerten. Die Worte kamen nur schwerfällig über die blassen Lippen.
»Nicht… nicht allein. Das Sunpa-Khanpo Kloster ist nicht weit.
Zwei Tage von hier. Ich zeichne dir eine Karte. Der Abt wird dir…
einen Führer nach Nepal mitgeben. Jeder Tag zählt… Von Namche aus… gibt es eine Flugverbindung nach Pokhara. Man wird Kunsang einen Flüchtlingspaß ausstellen.«
Die Schwäche kehrte wieder. Das Sprechen bereitete ihm immer mehr Mühe. Ich hörte ihn keuchen, legte meine Hand auf seine Stirn, versuchte meinen Atem mit dem seinen in Einklang zu bringen.
Seine Züge entspannten sich. Ich flüsterte:
»Atan, was wird aus dir?«
Er seufzte tief
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