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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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erkannte es inzwischen ganz genau. Und gleichzeitig wurde ich von einem geradezu körperlichen Gefühl leidenschaftlicher Gewißheit befallen. Eines Tages, eines wirklichen Tages und nicht in der Phantasie, würde auch ich zu diesen Dingen fähig sein. Die Konsultationen kosteten Karma viel Kraft; nach jeder Untersuchung entspannte sie sich wie eine erschöpfte Athletin. Ihre Nasenflügel waren eingesunken, das Haar klebte an den nassen Schläfen.
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie ermüdend das ist. Fünf bis acht Patienten am Tag, und ich stehe kaum noch auf den Beinen.«
    Mein Wissen über die tibetische Medizin war nichts Halbes und nichts Ganzes. Genaugenommen fand ich ihr Postulat zu vereinfacht.
    Ich stand vor einer Art hypothetischer Situation, zu der ich keine Verbindung fand. Bis ich mir vornahm, sie als eine Angelegenheit der Erfahrung anzusehen, ohne Verschönerung durch Esoterik, Romantik oder Religion.
    In der tibetischen Medizin bestimmten fünf Aggregate die Gesundheit: Gestalt, Empfindung, Gedanken, geistige Vorstellungen und Bewußtsein. Diese Aspekte äußern sich biologisch in drei Körpersäften. Der Gallensaft erzeugt das sogenannte »Zentralfeuer«
    zwischen Herz und Nabel. Störungsfaktoren wie Alkohol, Übermüdung, übermäßiger Geschlechtsverkehr oder Jähzorn drohen den Organismus »auszubrennen«. Da wirkt die zweite Substanz, der
    »Schleim« kühlend. Er wird jedoch durch zuviel Essen, zu wenig Bewegung und Mangel an frischer Luft erzeugt; der Mensch fühlt sich unlustig und träge. Als Ausgleich dient die dritte Substanz, nämlich die »Luft«, die Wohlwollen und Zufriedenheit bringt. Ihr 118
    Sitz ist im unteren Teil des Rumpfes.
    »Aus diesen Gründen«, erläuterte Karma, »sollten wir die wichtigen körperlichen Ausscheidungen – Harn, Kot, Tränen –
    niemals zurückhalten. Nur solange die Mischung, die Menge und die Wirkung der verschiedenen Körpersubstanzen im Gleichklang steht, bleibt der Mensch gesund. Der Ursprung der Krankheit liegt ebenso in unserer Lebensweise wie in unserer Gefühlslage begründet.«
    Und es ist weiter nicht verwunderlich, fügte sie hinzu, daß die Kontrolle des Ichs, ein atemberaubender, mühevoller Vorgang, als höchstes Ziel der Mönche und Philosophen gilt. Das meiste, was sie sagte, kam mir durchaus logisch vor. Tief im Innern erreichten mich Dinge, die sich zusammenfügten. Und gleichzeitig war mir bewußt, daß ich nicht einmal auf der ersten Stufe stand. Es würden noch viele Stufen folgen, und inzwischen mochten Jahre vergehen.
    »Du stellst wenig Fragen«, meinte Karma.
    »Ich finde es lieber selbst heraus.«
    Sie lachte.
    »Du machst es wie ich.«
    Tibetische Forscher haben mehr als vierhundert Krankheiten aufgelistet; heutzutage kommen neue dazu: Krebs, Hepatitis, Aids.
    Sie verfügen über eine große Auswahl an Medikamenten.
    »Je nach Krankheitsbild braucht es dazu sehr komplexe Mischungen«, sagte Karma. »Aber viele sind nur wirkungsvoll, wenn der Kranke mitmacht.«
    »Inwiefern?«
    »Nun, indem er in manchen Fällen zugibt, daß die Störung nicht von außen an ihn herangeflogen kam, sondern durch seine eigene innere Einstellung verursacht werden konnte.«
    »Du willst, daß er sein eigener Psychotherapeut wird?«
    »Wieviele Kranken manchen sich selbst zu Kranken.«
    Gewiß war die tibetische Medizin nicht frei von Irrtümern und Fehlspekulationen. Doch das Vermächtnis zahlloser Jahrhunderte stand auf solidem Boden. Der Blutkreislauf beispielsweise war den Ärzten seit Generationen bekannt, ebenso wie die Reinigung des Blutes durch die Nieren. Die Urinalanalyse galt als Spiegel des inneren Körpers. Man wußte auch, daß eine Arznei nicht länger als sechs Tage eingenommen werden durfte. »Weil sich der Körper an das Medikament gewöhnt oder sie ablehnt. Manche Heilmittel sind gut am Anfang und schlecht, wenn man sie länger gebraucht.«
    Die Tibeter arbeiten mit natürlichen Heilmitteln, mit Pflanzen und 119
    Kräutern, zerstampft oder mit Kampfer gemischt und zu kleinen Kugeln geformt. Sie verwenden auch Lehm, Mineralien, pulverisierte Metalle und glauben an die Kraft der Edelsteine. »Der Türkis hat die Fähigkeit, zusammenzuhalten, was sich sonst zersplittern würde. Auch die Seele. Er hilft bei Angst und Selbstzweifel, lindert Nervenleiden und Muskelschmerzen. Korallen bringen Blutungen zum Stillstand, verhindern Depressionen. Der Bernstein, in dem urzeitliche Fragmente schimmern, steigert die Energie der Frau und

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