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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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arbeiteten in der Ziegelwerkfabrik. Aber die Zahl der Arbeitslosen war hoch, und natürlich gab man Nepalis den Vorrang. Die Frauen fuhren täglich mit dem Bus oder dem Fahrrad nach Pokhara. Sie betätigten sich als fliegende Händlerinnen oder führten kleine Läden, wo sie Schmuck und im Camp hergestellte Decken, Jacken und Umhängetaschen verkauften.
    »Am meisten Sorgen machen uns die Jugendlichen«, gestand Pema. »Sind sie unbeschäftigt, hängen sie herum. In Pokhara begegnen sie Touristen, die alles haben. Dazu kommt die offene Drogenszene. Wir versuchen sie zu schützen, können sie aber nicht ständig im Auge behalten.«
    Die Grundschule befand sich im Lager; für die höhere Schule mußten die Kinder nach Pokhara. Eltern, die es sich leisten konnten, 111
    schickten ihre Töchter und Söhne nach Indien in ein Internat oder zu Verwandten, damit sie studieren konnten.
    »Die Analphabetenrate Nepals ist hoch«, sagte Dorje Sandup.
    »Weniger als 26 Prozent der Bevölkerung können lesen und schreiben. Bei uns soll es anders sein. Dank einer besonderen Spende Seiner Heiligkeit können auch Kinder aus armen Verhältnissen studieren. Ihre Traumziele sind die Vereinigten Staaten oder Kanada.
    Aber wenn sich der Bildungsmangel nicht aufholen läßt, müssen sie in Kauf nehmen, daß sie Straßenbauer werden. Das führt nicht selten zu Konflikten.
    Jugendliche wollen leben, nicht nur existieren. Wir müssen da sehr wachsam sein.«
    Nach wie vor bestand die Auffassung, daß in jeder Familie ein Sohn – oder eine Tochter – ins Kloster gehen sollte, um für die hart arbeitenden Angehörigen zu beten. In Wirklichkeit waren die Eltern froh, wenigstens ein Kind auf Lebzeiten versorgt zu wissen.
    »Was die Mädchen betrifft, da suchen sie niemals die Hübschen aus.« Pema grinste mich an. »Ich aber sage den Eltern: Seid ihr sicher, daß dies euch nicht nur als bequeme Lösung dient?«
    Sie schlug mir vor, die Schule zu besichtigen. Das Gebäude war alt, die Klassenzimmer befanden sich im ersten Stock. Im Gang war eine große Zahl von Kinderschuhen sorgfältig aufgereiht. Die gleiche Ordnung herrschte auch in den Klassen. Die Kinder saßen auf bunten Kissen am Boden und arbeiteten an langen, niedrigen Tischen. An den Wänden hingen Zeichnungen in leuchtenden Farben. Die Erzieher – zwei Frauen und zwei Männer – hatten in Indien studiert. Eine Lehrerin kam aus Cambridge. Die Unterrichtssprache war tibetisch, aber schon im ersten Schuljahr lernten die Kinder nepalisch und englisch dazu. Man vertraute ihrer raschen Auffassungsgabe. Die Lehrerin, eine muntere Frau in tibetischer Tracht, führte uns in einen Raum, wo einige Halbwüchsige an Computerterminals arbeiteten. Die Maschinen waren nicht die neuesten Modelle, schienen aber brauchbar und gut.
    »Die Kinder sollen ihre Kultur bewahren, sie aber nicht als Beschränkung erleben«, sagte die Lehrerin. »Der Computer trennt nicht die Menschen, sondern verbindet sie. Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, daß die Kinder das besser wissen als wir. «
    Während wir sprachen, schrillte die Pausenglocke. Die Schüler stürmten in den Hof, füllten ihn mit Stimmen und Gelächter.
    Zierliche, buntgekleidete Mädchen und Jungen, das schwarze Haar 112
    wippend wie Vogelgefieder. Einige Kinder blieben in unserer Nähe, ergriffen scheu unsere Hände und klammerten sich daran fest. Die zu uns aufschauenden Gesichter waren still und ernst.
    »Waisenkinder«, sagte die Lehrerin leise. »Sie haben Schweres durchgemacht.«
    Das Verhalten dieser Kinder verriet ein starkes Bedürfnis nach Zuwendung und Geborgenheit. Die Sehnsüchte ihrer Eltern bezahlten sie mit einem hohen Preis. Die Lehrerin seufze.
    »Wir sind hier so etwas wie eine Familie, aber Vater und Mutter können wir nicht ersetzen. Das verstehen Sie doch?«
    Es ist eine zu einfache Behauptung, daß der Mensch, sobald er in Not ist, zu wahrer Menschlichkeit aufblüht. Es stimmt nicht, nicht einmal im Tashi Packhiel Camp. Tibeter leben mit eigenen, ganz besonderen Erfahrungen. Sie besitzen ein starkes kollektives Gedächtnis. Ihre Ideale, Erinnerungen, Hoffnungen hängen mit ihrer Religion zusammen, die es zu bewahren gilt. Die Menschen im Westen leben von dem, was fertig an sie herangebracht wird.
    Vielleicht achten sie darum nicht auf gewisse Dinge, an denen uns viel liegt: auf die Nächstenliebe, zum Beispiel.
    »Was redest du dir zusammen?« sagte Karma. »Nächstenliebe ist eine Theorie.«
    Man konnte die Dinge auf

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