Die Tibeterin
bewahrt die Manneskraft. Warum lachst du nicht darüber?«
»Weil dazu kein Anlaß besteht. In Europa belächelte man die
>Wunderheiler<, die Spinnweben oder schimmeliges Brot auf eine Wunde legten. Bis Fleming 1928 das Penicillin entdeckte und man feststellte, daß Penicillin ein Schimmelpilz ist.«
Eines Abends sagte Karma zu mir:
»Ich habe dich beobachtet. Du solltest lernen, deine Hände zu gebrauchen.«
Ich war ein wenig überrascht. »Wie meinst du das?«
Es war kurz vor dem Schlafengehen. Wir saßen auf meinem Bett, jede auf einer Seite, und unterhielten uns. Karma war ziemlich müde und gähnte. Sie bürstete ihr Haar im Licht der trüben Lampe. In der kraftvollen, blauschwarzen Masse schimmerten die ersten weißen Strähnen; sie standen ihr gut. »Du arbeitest mit dem Skalpell. Das ist gut und nützlich. Aber deine Hände können mehr. Sie können ohne Hilfsmittel heilen.«
Ein Schauer überlief mich.
»Magnetismus?« frage ich. »Ist es das, was du sagen willst?«
»Hast du es noch nie gespürt?«
Ich erinnerte mich an vieles; an die Schmerzen meiner Mutter, die ich mit Massagen linderte; an die vielen zutraulichen Kinder, an Tiere aller Art, die sich von mir streicheln ließen. Das war schon immer so gewesen. Auch Arnold Kissling hatte meine Fähigkeit wahrgenommen, sie jedoch rational gedeutet. Und was die Männer sonst betraf… O ja, alle hatten das Fluidum meiner Hände empfunden, es als erotischen Reiz genossen. Ich biß mir auf die Lippen. Karma blinzelte mir zu. »Das gibt dir zu denken, was?
Heilende Hände sind eine natürliche Gabe; wenn du diese Gabe nicht schulst, verschwindet sie. Du mußt dich verstärkt um sie kümmern.«
»Warum habe ich es nicht früher bemerkt?«
»Weil du glaubtest, daß deine Fingerfertigkeit im Labor entstanden 120
ist. Aber ich sage es dir: Du hattest diese Kraft seit deinem ersten Atemzug.«
Ich betrachtete meine Hände lange, als ob mir der Anblick fremd war. Es waren kleine Hände, sehnig und gelenkig. Der Handrücken war gewölbt, fast grob, die Finger gelenkig, nicht besonders lang, mit wohlgeformten Nägeln. Die Haut war dunkel und straff, der Handteller auffallend hell, und die kräftigen Linien zeugten von mehr Willen als Empfindsamkeit.
»Nun?« brach Karma im spöttischem Ton das Schweigen.
»Na ja, wenn du es sagst… «
»Hast du je vor dem Heilen Angst gehabt?«
»Nein, niemals.«
»Dann mußt du diese Angst lernen. Zittern deine Hände nicht, wenn sie sich auf einen kranken Körper legen, wirst du das Geheimnis des Heilens nie verstehen. Denn das würde bedeuten, daß kein Mitgefühl dein Herz erreicht.«
In dieser Nacht ließ der Schlaf lange auf sich warten. Die kleinen Fenster hatten keine Vorhänge; im schwarzen Rechteck funkelte der Vollmond grell und scharf. Er war fast doppelt so groß wie in Europa, seine eisige Pracht beherrschte den Himmel, tauchte die Berge in Kobaltblau und Silber. Im Zimmer warfen die Mondstrahlen scharfe Schatten, jeder Gegenstand trat deutlich hervor. Die Bewohner des Himalaya glauben, daß der Mond die Berge geschaffen hat, indem er sie aus der Erde zog. Geologisch ist das gar nicht so falsch, dachte ich. Heißt es nicht, daß der Mond vor Millionen von Jahren in einem viel kleineren Abstand als jetzt die Erde umkreist hat? Nach einer Weile schlief ich ein, doch es war ein leichter, unruhiger Schlaf. Ich träumte, daß sich der Mond in himmelsweiter Höhe in ein Gesicht verwandelte. Es war vollkommen deutlich, schattenlos weiß, mit starren schwarzen Augen. Das Gesicht sah mich von der Seite an, bevor es plötzlich hinabschwebte. Es kam näher, blickte mich an. Die Augen schimmerten wie Kieselsteine; der blasse Mund öffnete sich, zitterte in dem verzweifelten Versuch, etwas herauszuschreien. Ich hörte Atemzüge; sie füllten jeden Zeitbruchteil mit röchelnden Geräuschen aus, während der Mund schrecklich erstickte Worte formte. Und gleichzeitig erkannte ich, daß ich es war, die schreien wollte und es nicht konnte. Ich zitterte am ganzen Körper, pumpe und preßte die Luft aus meinen Lungen. Endlich löste sich der Krampf; endlich drang der Schrei aus meiner Kehle; kalte Luft strömte in meinen 121
Mund, die Anstrengung zerriß mir fast die Stimmbänder. Und gleichzeitig mit dem Schrei trennte sich das Gesicht von der Scheibe, glitt empor, zog eine Lichtbahn durch den Himmel, die schmerzhaft meine Augen traf. Dann flossen Gesicht und Mond ineinander.
Jemand berührte mich, eine Stimme sprach
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