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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Welt. Ein kanadisches Paar, das sich auf der Hochzeitsreise befand, blieb vierzehn Tage, um für die Schüler eine Datenbank aufzubauen. Carole hatte grüne Nixenaugen und überlange Beine, von Flöhen zerstochen. Sie machte die Kinder mit dem Internet vertraut. Alan komponierte Songs; er sang wie auf Knopfdruck, mit kraftvoller Stimme und in französischer Sprache. Keiner verstand ihn, und alle waren hingerissen.
    Als sie gingen, war im Camp eine Zeitlang nicht viel los. Dann hielt, mit quietschenden Reifen, ein schlammbespritzter Rangerover vor dem Kloster. Der nepalische Fahrer hob, behutsam und zuvorkommend, einen Rollstuhl aus dem Wagen. Im Rollstuhl saß eine zierliche Person, weißhaarig und perfekt zurechtgemacht. Lady Helen Anderson hatte Geld für ein Heim gespendet, das alte und mittellose Flüchtlinge beherbergte. In den achtziger Jahren war sie mit ihrem Privatflugzeug über Kenia abgestürzt. Sie war mit dem Leben davongekommen. Querschnittsgelähmt. Jetzt war sie Witwe, schwerreich, hatte keine Kinder, dafür zwei Nichten, die sie nicht 115
    mochte. Zu Tibet hatte sie stets eine enge Beziehung gepflegt. Bevor die Chinesen das Land besetzten, war ihr Großonkel in Lhasa Regierungsvertreter gewesen. Vor ein paar Jahren war der Dalai Lama auf ihrem Landsitz in Cornwall zu Gast gewesen. Lady Anderson reichte mir ihre blaßgeäderte Hand, lächelte mich aus strahlenden violetten Augen an. Sie mußte bemerkenswert schön gewesen sein; sie war es immer noch. Ich ging neben ihr her; eine Pflegerin schob den Rollstuhl. Lady Anderson hielt meine Hand und kicherte herzhaft, während sämtliche Mönche sie ehrfürchtig bestaunten.
    »Sehen Sie, my dear, ich werde dreiundachtzig, habe einiges erlebt, und der Rollstuhl ruft bei mir Gereiztheit hervor. Reichtum ist eine Opernwelt, und um Geld können schöne Raufereien entstehen. Ich spiele lieber Vorsehung, solange mein Gehirn nicht verkalkt ist.«
    Ihr Testament lag beim Notar. Das Vermögen ging an verschiedene Stiftungen. Den verhaßten Nichten hatte sie ihre Netsuke-Sammlung vermacht. Und zwei Abendroben von Schiapparelli, die sie nicht tragen konnten, weil sie zu dick waren.
    Ein japanischer Photograph kam mit seinem Sherpa in die Krankenstation. Der Sechzehnjährige hatte sich an der Wade verletzt. Die Wunde eiterte. Ich behandelte die Entzündung, gab dem Jungen eine Spritze. Während er sich ausruhte, kam ich mit Tadashi Imada ins Gespräch. Er erzählte, daß er einen Bildband als Beitrag zum Umweltschutz herausgeben wollte und bei den Chinesen auf taube Ohren gestoßen war.
    Luftaufnahmen waren ihm nur über ganz begrenzen Gebieten gestattet worden.
    »Und stets war ein Chinese dabei, der seinen Kopf zwischen mich und den Sucher stecke. Wie kann man da ungestört arbeiten? Ich lese Heidegger, aber ich halte einen Sonnenuntergang nicht für kitschig.
    Ich sehe, wie unser Planet zur Müllhalde wird. Und was übrig bleibt, zum Militärgebiet. Glauben Sie wirklich, daß die Gebete für den Frieden auf Erden jemals erhört werden?«
    Ich glaubte es nicht. Der Japaner nickte. Seine Augen blickten illusionslos und sarkastisch hinter der randlosen Brille.
    Karma hatte die Siedlung als kleine Weltstadt bezeichnet. Ich hatte das als Witz aufgefaßt. Allmählich merkte ich, daß es ihr ernst damit gewesen war. Ein Besucher trat in die Fußstapfen des anderen, zerstörte sie nicht, grub sie tiefer. Und schließlich war es so, als ob man Briefe versiegelte. Briefe an die Erde, bittende, vertrauensvolle 116
    und warmherzige. »Findest Du fünfzig Gerechte in dieser Stadt …«
    Hoffnung hat eine magische Wirkung. Außerdem hatten wir noch Zeit. Nicht mehr viel, nahm ich an, aber ich fühlte mich keineswegs in trostloser Stimmung.
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13. Kapitel

    H ände hatten mich schon immer fasziniert, die von Karma rührten mich. Ihre Art, mit den Patienten umzugehen, so sanft und geschickt, erfüllte mich mit Bewunderung und Ehrfurcht und einer Spur Neid.
    Mittelfinger und Ringfinger legte Karma auf die Pulsader; bei einer Frau zuerst am rechten Handgelenk, dann am linken, bei einem Mann in umgekehrter Folge. Ihre Atemzüge paßten sich dem Atem der Patienten an. Sie schloß die Augen, kehrte alle Sinne nach innen, während jeder Finger einen anderen Druck ausübte, um die kleinste Störung der Haut, der Muskeln und der Knochen zu ertasten. Sie horchte auf das Blut, auf den inneren Rhythmus. Heilkunst ist Erfahrung, aber sie ist es nur zum Teil. Das übrige ist Mitteilung, ich

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