Die Tibeterin
unverständliche Worte; es war nicht meine Stimme, nein. Meine Kehle brannte, die Zungenspitze fühlte sich wie Sandpapier an; ich wußte nicht, ob ich jemals wieder würde sprechen können. Ich schluckte Speichel, hustete und wurde wach. Im Mondlicht blickte Karma auf mich herab; ihre Hand klopfte leicht meine Schulter. Mein ganzer Körper war steif; ich fror bis in die Eingeweide. Schwerfällig zog ich die Knie an, setzte mich hoch und kam mir mit einem Mal sehr dumm vor.
»Ach Karma, entschuldige, ich habe geträumt.«
Meine Stimme war ein heiseres Krächzen. Sie drückte beruhigend meinen Arm. Aus einer Thermosflasche goß sie Wasser in ein Glas und reichte es mir. Ich trank langsam einen Schluck nach dem anderen. Karma betrachtete mich. Etwas in ihrer Haltung, in ihrer Stille, kam mir befremdlich vor. Alles war ruhig; nur in der Ferne bellte ein Hund. Nach einer Weile brach sie das Schweigen:
»Besser?«
»Danke ja, besser.«
Sie nahm mir das leere Glas aus der Hand. Ich wischte mir mit dem Handrücken über die nassen Lippen.
»Habe ich gesprochen?«
Sie nickte ganz leicht.
»Was habe ich gesagt?«
Sie stand mit verschränkten Armen vor mir. Ihr Gesicht war merkwürdig starr.
»Du hast deine Schwester gerufen.«
»Chodonla?«
Sie nickte ein zweites Mal, wortlos. Unsere Blicke trafen sich. Eine gewisse Spannung war da, die sie gut verbarg. Mein Herz pochte. Ich wollte eigentlich nicht sprechen, aber ich mußte es tun.
»Ich träume oft von ihr, weißt du. Es kommt wohl daher, weil wir Zwillinge sind… «
Sie schwieg nach wie vor. Ihre Brauen waren zusammengezogen, ihr Mund hatte etwas Hartes an sich. Und plötzlich hatte ich Angst.
Angst vor dem, was sie zu wissen schien. Angst vor allem, was mit Chodonla zusammenhing.
122
»Karma, was ist los?«
Ihre Augen schienen irgendein Bild in der Dunkelheit zu suchen.
Mein Herz klopfte in der Brust, in den Schläfen. Was sollte ihr ganzes Benehmen? Das Entsetzen stieg höher, ich ertrank fast darin und erschauerte.
»Sie ist tot, nicht wahr?« hörte ich mich sagen.
Sie sah mich prüfend an; ich nahm an, daß mein Gesichtsausdruck sie beunruhigte. Es war, als ob sie sich innerlich krümmte.
»Karma!«
Ein Seufzer hob ihre Brust. Als sie antwortete, klang ihre melodische Stimme fast tonlos.
»Sie ist nicht tot, Tara.«
Mein Gaumen wurde kalt.
»Karma, was ist mir ihr? Ich möchte, daß du es mir sagst.«
Sie saß da in einer Haltung, die plötzlich ihr richtiges Alter zum Vorschein brachte. Sie hatte die Gesetztheit einer Fünfzigjährigen, und gleichzeitig schien sie ratlos, verwirrt. Zum ersten Mal verstand ich sie überhaupt nicht mehr und wurde allmählich böse.
»Willst du es mir nicht sagen, Karma? Zum Donnerwetter, ich weiß, wo hinten und vorn ist! Ich kann mich mit den Tatsachen schon abfinden.«
Sie schluckte schwer.
»Gut. Besser, du erfährst es von mir, als von anderen. Sie arbeitet in einem chinesischen Bordell.«
Ich starrte sie an. Ich begriff nicht sogleich, aber eine gewaltige Übelkeit stieg in mir auf. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich wieder fähig war zu sprechen, wobei ich meine eigene Stimme kaum erkannte. »Das wußte ich nicht. Auch die Eltern nicht. Keiner.«
Sie antwortete nicht darauf. Ich konnte uns beide atmen hören. Ich hoffte – wider alle Vernunft – daß es nur Gerüchte waren. Aber sie mußte es besser wissen. Die Erstarrung war vorüber, aber meine Haut war klamm, die Handflächen feucht. Ich fühlte mich im Innersten erschüttert, wie ausgelaugt. Doch Karma hatte ihre Erregung überwunden; ihr Gesicht war wieder ruhig, und ihre Stimme hatte fast den gewohnten Klang. »Sie ist keine Prostituierte der untersten Klasse – wenn dich das trösten kann.«
Es tröstete mich etwas, aber nicht genug. Meine Kieferknochen krampften sich zusammen. Aber ich wollte Gelassenheit zeigen.
»Dein Vater hat sie doch in Lhasa getroffen. Er hat Amla sehr ausführlich geschrieben. Kürzlich habe ich den Brief wieder gelesen.
123
Er hat mir keinem Wort erwähnt… «
Sie legte ihre Hand auf mein Knie.
»Vater war etwas weltfremd. Es gab Dinge, die er einfach nicht sah… oder nicht sehen wollte.«
Ich kräuselte unfroh die Lippen.
»Vielleicht hat er seine Gedanken lieber für sich behalten?«
Sie strich mit müder Bewegung ihr Haar aus der Stirn.
»Ich kann es nicht sagen. Er war nie sehr gesprächig. Besonders in letzter Zeit nicht, als Mutter so krank war.«
»Und wie lange ist es her, daß du es
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