Die Tibeterin
verschiedene Arten betrachten. Es gibt Völker, die bei jedem Unrecht so markerschütternd jammern, daß die ganze Welt von ihren Klagen widerhallt. Tibeter verstehen es, würdig zu sterben: im Augenblick, da man sie umbringt, lösen sie durch Schweigen mehr Betroffenheit aus als durch lautes Wehgeschrei.
Ich versuchte Karma das deutlich zu machen; sie blickte mich spöttisch an und schüttelte den Kopf.
»Es ist alles viel weniger kompliziert. Wir haben uns Maßstäbe gesetzt und müssen sie einhalten. Was können wir denn nach unseren Grundsätzen anderes tun, als Nächstenliebe zu praktizieren?
Und gleichzeitig hoffen, daß die Regierungen mitsamt der Presse uns beachten? Ohne Terroranschläge läuft da nichts. Verstehst du, was ich meine?«
Ich widersprach.
»Aber das ist ja genau unsere Stärke! Wir sind der restlichen Welt um Jahrhunderte voraus.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Das hilft uns nicht weiter.«
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»Du bist zynisch.«
»Nur der Einfachheit halber. Das Problem ist, daß wir idealisiert werden und kaum Vorteile daraus ziehen. Würden wir Gebetsmühlen drehen statt Computer zu bedienen, wären alle entzückt.«
Ich dachte an Roman und lachte ein wenig. »Ja. Das ist manchmal ein sehr krampfhaftes Sich-Bemühen.«
»Ich bin froh, daß du es einsiehst. Jeder will, daß wir der Welt erhalten bleiben, aber in einem Glaskasten, mit einem Schild um den Hals. Erhalten bleiben sollen auch die Pandas, die weißen Tiger und der Regenwald.«
Ich sah zu, wie sie eine Mischung aus Tee und Salz auf die Herdplatte stelle und unter ständigen Umrühren Wasser hinzu goß.
Sie ließ den Tee ziehen und schwenkte dann den Krug, bis sich die Butter ganz auflöste. Inzwischen sprach sie weiter. »Die hehre Volksrepublik kann Tibet nicht aufgeben. Das wäre ein skandalöser Gesichtsverlust und ein großer strategischer Fehler. Beijin will zum alleinigen politischen Kartengeber in Ostasien aufsteigen und meldet territoriale Ansprüche in alle vier Himmelsrichtungen an. Der Mythos vom harmonisch-historischen Vielvölkerstaat? Eine aalglatte Lüge. Und keiner protestiert.« Sie goß den Tee aus dem Krug in kleine Tonschalen.
»Selbst wenn sich ganz Tibet gegen China erheben würde, hätten wir keine Chance. Keine Nation dieser Welt würde auch nur den kleinsten Finger rühren. Man würde Krokodilstränen vergießen, CNN einschalten und zusehen, wie man uns in Stücke hackt.
Streitest du das ab?«
»Nein.«
Sie reichte mir eine Schale Tee. Ich nahm sie und fragte:
»Hat China nicht auch Positives geleistet, wirtschaftlich gesehen?«
»Zum eigenen Nutzen. Was ist Tibet heute? Eine Kolonie. Keine einzige Straße wurde gebaut, um uns den Fortschritt zu bringen.
Straßen wurden nur zu Gebieten gebaut, in denen Rohstoffe zu holen sind. Die Chinesen zerstören unsere Lebensräume, schlachten die wilden Tiere ab. Sie haben Freude am Töten, wußtest du das? Sie nehmen alles, was sie kriegen können. Es wird nie enden. Die Wälder werden kahlgeschlagen, das Holz ins Mutterland gebracht.
Die Chinesen machen unser Land zum Versuchsgelände für Raketen, lagern Atommüll, verseuchen die Flüße. Im Westen seufzt man ein wenig und hält dann den Mund. Kleine Staaten setzt man unter Druck. Einer Großmacht pfuscht keiner ins Handwerk.«
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Ich nahm einen Schluck Tee.
»Oh, der ist gut!«
»Die Dzo werden im Hochtal schnell fett, und ihre Butter schmeckt besonders. Zu süß, finden manche.«
»Finde ich nicht.«
»Das freut mich.«
Ich schlürfte den Tee mit Genuß. Karma fuhr fort: »Wer in Tibet demonstriert, setzt nicht nur sein Leben, sondern auch das seiner Angehörigen aufs Spiel. Und was bleibt uns sonst? Passiver Widerstand? Nach längerer Zeit vergeht der Eifer, man resigniert.
Natürlich haben wir auch die Vorzeigetibeter, die es mit beiden Seien halten und Vorteile suchen. Wir sollen sie nicht tadeln. Der Mensch braucht Sicherheit.«
»Und die Flüchtlinge?«
Sie betrachtete mich unter gerunzelten Brauen.
»Ach ja, die Flüchtlinge. Sie gehen den Weg, von dem sie glauben, daß er besser für sie und ihre Kinder ist – nicht aus Feigheit, sondern aus Stolz. Sie wählen das Exil, um Tibeter zu sein.«
Im Tashi Packhiel Camp machte ich die Erfahrung, daß ich im Kreis gehen konnte und trotzdem vorwärts kam. Die Gegenwart wurde nicht der Vergangenheit geopfert und die Zukunft mit leichter Hand gehalten. Alles, was dort geschah, war provisorisch, anregend, erregend. Hier traf man Leute aus aller
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