Die Tibeterin
weißt?« fragte ich, Qual in der Stimme.
»Drei Jahre oder so. Ich erfuhr es von einer Frau, die bei Chodonla chinesisch lernte. Das war, bevor sie verhaftet wurde und ihre Stelle verlor.«
»Ihr Mann hat sich umgebracht.«
»Vielleicht sah sie keinen anderen Ausweg? Sie hatte ein Kind, sie war krank und konnte Tibet nicht verlassen.«
Ich fragte niedergeschlagen:
»Warum hast du mir das alles nicht schon vorher gesagt?«
»Ich schob die Sache immer wieder hinaus.«
Die Worte klangen steif; sie waren ihrer Zunge fremd. Karma war immer aufrichtig gewesen. Sie setzte hinzu:
»Mir war nicht wohl dabei.«
»Die ganze Zeit hast du mich also geschont. Das war sehr unfair.«
»Ich fürchtete mich davor, es dir zu sagen.«
Ihr Gesicht war beherrscht, aber sie schien nachzudenken und schüttelte ganz plötzlich den Kopf, als wäre ihr unvermittelt etwas klar geworden.
»Nein, das stimmt nicht. Die Wahrheit ist, daß ich mich selbst schonen wollte. Ich habe diese Sache verdrängt. Sie war mir peinlich. Das war ein großer Fehler von mir. Es tut mir leid.«
Wir waren uns beide sehr ähnlich. Ausflüchte lagen uns nicht. Ich sagte matt:
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich hätte wahrscheinlich dasselbe getan.«
Sie entspannte sich ein wenig.
»Ich bin froh, daß du es so siehst. Was nun? Wirst du es den Eltern sagen?«
Darüber mußte ich nachdenken.
»Amla macht sich schon Sorgen genug. Vater ist nicht ganz klar im 124
Kopf.«
»Ja, das hast du mir gesagt.«
»Er bildet sich ein, daß er ein anderer ist, ein Mann, der irgendwo in Tibet lebt. Er verwechselt seine eigene Vergangenheit mit der irgendeiner Phantasiegestalt.«
»Warum sollte er seine Träume nicht weiter verfolgen?«, sagte Karma. »Solange sie ihm nicht schaden?«
»Inzwischen zieht er Chodonla und mich dabei in seine Gedankenkreise. Das gefüllt mir nicht.«
»Alte Menschen haben viel Zeit, mit der sie nichts anzufangen wissen. Sie wollen am Leben teilhaben.«
»Wir haben alle unsere beschissenen Träume.«
Obwohl wir uns danach sehnten, über die vergangenen zehn Minuten das dunkle Tuch der Vergessenheit ziehen zu können, siegte die langsam einkehrende Vernunft. Unser Glaube lehrt uns, daß das Leben aus Leiden besteht, und daß man seinen Kummer überwinden kann, wenn man die Hoffnung bewahrt. »Was entstanden ist, wird auch aufgelöst.« Daß Chodonla aus Not oder Opportunismus eine Hure geworden war, bedrückte uns stark. Aber wir durften nicht verurteilen, was wir nicht verstanden. Wir kannten ihre Motive nicht.
Ich sagte zu Karma:
»Ich habe seit Jahren das Verlangen, sie zu sehen. Es läßt mir keine Ruhe und gehörte auch zu den Gründen, warum ich nach Nepal gekommen bin. Ich werde Chodonla schreiben, daß ich nach Lhasa komme und sie besuchen will. Ich glaube nicht, daß ich mit Schwierigkeiten rechnen muß.«
Ihre Antwort gab mir einen Stich ins Herz.
»Du wahrscheinlich nicht. Aber Chodonla.«
»Ich kann sie nicht sehen?«
»Natürlich. Wenn sie dich sehen will. Schon damals hatte sie große Angst, meinen Vater zu treffen. Die chinesischen Bürokraten sind sehr gewissenhaft. Sie werden auch in deiner Vergangenheit wühlen.«
Man könnte, dachte ich wütend, einen schönen Film daraus machen.
»Nur zu. Chodonla ist meine Schwester. Was hat das mit Politik zu tun?«
Sie schüttelte den Kopf über soviel Begriffsstutzigkeit.
»Sie war doch in Haft, nicht? Ihr Mann hat sich im Gefängnis das Leben genommen, nicht wahr? Die Polizei hat ein Auge auf 125
Aktivisten. Chodonla arbeitet in einem Puff; sie hört und sieht vieles.
Du kommst aus dem Ausland, könntest Fragen über politische, militärische oder wirtschaftliche Probleme stellen. Fragen, die den Behörden ein Greuel sind. Du bist eine Reaktionärin, Tara. Eine mögliche Spionin.«
»Aber das ist ja lächerlich!«
»Jede Diktatur ist paranoid. Du mußt Geduld haben.«
»Geduld? Die habe ich seit Jahren.«
Ich war gewohnt, über meine Gedanken Register zu führen und Entscheidungen zu treffen, wann und wo es mir paßte; jetzt war ich hilflos und überfordert; ein Zustand, den ich nicht mochte.
»Sei nicht töricht«, sagte Karma. »Wir hatten eine Phase der Entspannung, aber letzthin hat sich die Lage verschlechtert. In Tibet geht es auf und ab.«
Was war los mit mir? Warum war ich so verwirrt, so verzweifelt in meinem Kopf und in meiner Seele? Wie, um alles in der Welt, war es dazu gekommen? Meine Verbohrtheit löste ein schmerzhaftes
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