Die Tibeterin
Wunde hätte genäht werden sollen.«
Er verzog die Lippen.
»Das hätte ich mir nicht zugetraut.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben.
»Soll das heißen?…«
Er nickte mit unbewegtem Gesicht.
»Ja. Ich habe die Kugel entfernt.«
»Und auch das Kind zur Welt gebracht?«
»Die Natur kennt ihre Stunde; wir haben uns zu fügen.«
Ich mußte ihn auf eine merkwürdige Art angestarrt haben, denn in seinen Augen erschien ein ironisches Funkeln.
»Ich bin mit Pferden großgeworden. Im Frühling, wenn die Stuten werfen, mußte ich oft Geburtshilfe leisten… «
»Ich verstehe.«
Er ließ den Blick über mich gleiten auf eine Art, die man als unverfroren bezeichnen konnte. Ich schluckte und fragte: »Sind Sie verletzt?«
»Nicht durch Wunden«, war die lakonische Antwort.
Dieser Mensch war nicht die erste harte Nuß, die ich in meinem Leben zu knacken hatte.
»Was kann ich für Sie tun?«
Unvermittelt lächelte er. Es war nur kurz, dieses Lächeln - ein flüchtiges Aufblitzen weißer Zähne hinter dem harten Mund.
»Gibt es vielleicht so etwas wie eine Dusche?«
Ich unterdrückte ein Auflachen. Dieser Wunsch kam selten, genauer gesagt nie aus dem Mund der Flüchtlinge.
»Im Reception Center finden Sie, was Sie brauchen.«
Ich wollte in mein Sprechzimmer gehen, doch er hielt mich zurück.
»Wer sind Sie?«
Seine unverblümte Art entsprach weder der Diskretion der Gebildeten noch der Ehrerbietung der einfachen Leute, für die ich eine Wohltäterin im weißen Kittel war. Ich sagte ihm, wie ich hieß und worin hier meine Aufgabe bestand.
»Sie haben eine merkwürdige Aussprache«, stelle er fest.
Seine Dreistigkeit begann mich zu faszinieren. Ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen.
»Ich bin erst seit fünf Monaten in Nepal.«
»Und vorher, wo waren Sie da?«
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»Vorher? Da war ich in der Schweiz.«
»Sind Sie mit Ihrer Familie aus Tibet geflüchtet?«
Es war, als ob er mich einem Verhör unterzog. Alle Patienten saßen da wie zusammengeschrumpft. Sogar Dechi schaute verblüfft von ihrem Bildschirm auf. Ihr Mund stand leicht offen.
Unwillkürlich, wie hypnotisiert, beantwortete ich seine Fragen.
»Ja. Ich war fünf, als wir Lhasa verlassen mußten.«
Er nickte langsam.
»Man nennt mich Atan.«
Nur ein Vorname. Sonam hatte ihn auch so genannt. Es mochte ein Deckname sein. Ich dachte, was geht es dich an? Er fuhr fort, mich anzustarren. Etwas wie Verwirrung lag in seinem prüfenden Blick.
Meine Neugierde wuchs, je länger ich mit diesem Mann beisammen war. Ich wollte mehr über ihn und seine Begleiterin erfahren. Fast ohne es zu wollen, hörte ich mich sagen:
»Ich wohne bei meiner Cousine. Man wird Ihnen zeigen, wo das ist. Kommen Sie, wenn Sie fertig sind. Ich mache Ihnen etwas zu essen. Ich kann mir vorstellen, daß Sie hungrig sind.«
Er lächelte.
»Danke. Ich könnte schon etwas vertragen.«
Als er ging, fingen die Patienten an, sich unruhig zu bewegen, sie tauschten Blicke und flüsterten. Ich ging die Treppe hinauf, in das Seitenzimmer, wo Sonam lag. Ich trat an ihr Bett und legte ihr die Hand auf die heiße Stirn. Sonam öffnete die Augen und hustete, von Fieberfrösteln geschüttelt. Ihre Wangen waren gerötet. Die Pflegerin hatte sie von Kopf bis Fuß gewaschen und ihre Temperatur gemessen. Ich verzog das Gesicht und gab Sonam eine Penicillinspritze, um das Fieber zu senken. Der Pflegerin sagte ich, daß die Kranke viel Flüssigkeit brauchte. Dann sah ich auf die Uhr.
Mathai Shankar würde mich ablösen; ich erwies ihm oft den gleichen Dienst. Ich zog meinen Ärztekittel aus, sagte Dechi, daß ich für einen Notfall jederzeit zu erreichen war, und verließ die Krankenstation.
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16. Kapitel
I n der kleinen Kochnische wühlte ich in unseren Vorräten; zum großen Teil Konserven, Reis, Nudeln und Tütensuppen. Ich drehte die Gasflamme an, setzte Wasser für eine Portion Teigwaren auf, putzte Rüben, schälte Zwiebeln und öffnete eine Dose Cornedbeef.
Dabei befaßten sich meine Gedanken mit Atan. Er beschäftigte mich mehr, als ich es für möglich erhalten hätte. Diese Mischung aus Neugier und Anziehungskraft traf mich unvorbereitet. Ich war hier sozusagen in Klausur, hatte einen beachtlichen Lerneifer entwickelt und mir vorgenommen, nicht zu versagen. Tara, die Nonne? Mitten in meinen Gedanken mußte ich fast lachen. »Auf dich ist offenbar kein Verlaß. Jeder Flüchtling erzählt dir eine Schauergeschichte, und du hast noch für keinen Nudeln gekocht. Warum
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