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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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ob er Bier wollte, und stellte die Flasche vor ihn hin. Für gewöhnlich essen Tibeter schnell und geräuschvoll. Atan aß langsam und ruhig, ohne zu sprechen, völlig achtlos gegenüber Tischsitten, aber merkwürdig beherrscht. Er mußte unaufhörlich in der Erwartung einer Gefahr leben, sie nie herausfordern, aber immer für sie bereit sein. Beim besten Willen vermochte ich sein Alter nicht einzuschätzen. Jung war er nicht; seine Wangen waren eingefallen, und die Falten um seinen Mund tief wie die Einschnitte eines Messers.
    Nach einer Weile hob er die Augen.
    »Danke. Sie sind eine gute Köchin.«
    Das war so falsch, daß ich es ihm sagen mußte.
    »Nein. Die Nudeln sind angebrannt. Es schmeckt Ihnen nur, weil Sie so lange von Rinden und Flechten gelebt haben.«
    Er brach in Lachen aus. Seine Zähne waren weiß und kräftig. Der Charme, die Offenheit dieses Lachens wischten zehn Lebensjahre aus seinem Gesicht weg.
    »Ich bin selbst auch ein guter Koch.«
    »Aber Sie können Kugeln entfernen und Kinder zur Welt bringen.«
    Sein Lachen erlosch ebenso plötzlich, wie es sich gezeigt hatte.
    »Es gibt Dinge, die gemacht werden müssen. Und dann ist es besser, daß man sich nicht wie ein Dummkopf anstellt.«
    Ich stützte mein Kinn in die Handfläche und ließ ihn nicht aus den Augen. Seine Härte schien tief in seinem Wesen zu wurzeln; sie war wie eine schnell zupackende, gefährliche Kraft, aber ohne Grausamkeit. Quellen der Sanftheit, die in ihm fließen mochten, konnte man nur erahnen. Was für ein Mann ist er? fragte ich mich 141
    immer wieder. Ich hob die Flasche und goß ihm neues Bier ein.
    »Ich würde gerne die Geschichte hören.«
    Er zog das Glas an sich heran; seine Augen, auf mich gerichtet, sahen durch mich hindurch. Irgendetwas schien ihn an andere Orte und andere Menschen zu erinnern. Er war hier und zur selben Zeit weit weg. Nach einer Weile sagte er:
    »Wer demonstriert und verlangt, daß man ihn als Menschen wahrnimmt, verliert – offiziell – einen Monatslohn. Die Touristen loben den Fortschritt. Leider ist Tibet kein Disneyland für Metaphysik. Tibet ist ein Land der starken Seelen. Wer demonstriert, weiß nicht, ob er den nächsten Tag erlebt.«
    Er warf mir einen dunklen Blick zu. Ich schwieg.
    »Rigdzin hatte in Shanghai chinesische Literatur studiert. Tibeter sind ein schlechtes Rohmaterial, um daraus überzeugte Kommunisten zu formen. Rigdzin war ein aufrichtiger Mensch, ein moderner Intellektueller und folglich ein schlechtes Parteimitglied.
    Keiner erkannte es, am allerwenigsten er selbst. Wieder zurück in Lhasa, wurde er als Chefredakteur einer Zeitschrift eingesetzt; und da er nicht wußte, was er wollte, eignete er sich gut für die Aufgabe.
    Daneben schrieb und inszenierte er Theaterstücke, Ableger von Lady Maos Revolutionsopern, zur Unterhaltung der Volksbefreiungsarmee und zur Erbauung der Massen. Die Kultur hat inzwischen solche Fortschritte gemacht, daß auch ein Kommunist mit Bühnenwerken Geld verdienen kann.«
    Seine Augen funkelten spöttisch.
    »Wir haben ein Sprichwort: Mißtraue dem Honig, den man dir auf der Messerschneide anbietet. Kennen Sie es?« Er wartete nicht, daß ich antwortete, und sprach weiter:
    »Ich traf Rigdzin, als er unsere Ernte- und Hochzeitstänze auf Video aufnahm und Kulturshows daraus machte. Die Kraft, die ganze unverbrauchte Kraft war dahin. Er merkte es nicht einmal.
    Dazu mußte ich mir sein Gerede anhören. Rigdzins Erfolg gab ihm eine schöne Sicherheit. Nicht die Armut der Menschheit sei die Ursache ihrer Unruhe, dozierte er, sondern ihr nahendes Glück in Gestalt des Kommunismus. Und wer das nicht begreife, der stünde zwischen der Menschheit und ihrem heiß ersehnten Glück und müsse beseitigt werden. Der Spaß dauerte so lange, bis ich ihn satt hatte.
    Rigdzin war kein Opportunist, er war ein Mensch, der nicht erkannte, womit er es zu tun hatte. Seine Sehnsucht nach Gerechtigkeit ließ ihn schwanken wie ein Schilfrohr im Wind. Es 142
    gab Dinge, die ich ihm sagen mußte. Wenn ich es nicht tat, würde es niemand tun. Es waren kaum Menschen übrig, die dazu fähig waren.
    Ich wußte das. Es stand ganz bei mir. So zeigte ich ihm gewisse Orte und erzählte ihm, was sich dort abgespielt hatte. Nicht alles, nur einen Teil. Aber das genügte. Als er ging, war er sehr nachdenklich.
    Er hatte noch einen anderen Menschen in sich, einen Menschen, den er nicht kannte und der jetzt zum Vorschein kam.
    Rigdzin heiratete eine Schauspielerin, die eine

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