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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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hübsche Stimme hatte und in kleineren Rollen auftrat. Sonam Yangtschen Delok war die Überlebende einer von den Rotgardisten gänzlich ausgerotteten Familie der alten Aristokratie. Ihre Mutter hatte fünfzehn Jahre lang ohne Bezahlung auf Baustellen gearbeitet und ihr Essen zusammengebettelt. Sonam war es nicht erlaubt worden, eine Schule zu besuchen. Ihre Mutter war es, die ihr Lesen und Schreiben beibrachte. Als die Mutter an Darmkrebs erkrankte, wurde sie nicht im Krankenhaus aufgenommen: Für die Nachkommen der Adeligen gab es keine Betten. Die alte Frau starb unter furchtbaren Schmerzen, und Rigdzin schrieb in seiner Zeitung: >Alles, was an einer Revolution menschlich sein mag, hat die Zeiten nicht überdauert. Wir sprechen von der Zukunft und lassen es zu, daß die Vergangenheit die Gegenwart beschmutzt<. Den Chinesen gefiel das nicht; aber da seine Theaterstücke beliebt waren, übte man Nachsicht. Rigdzin gewann eine Schlacht und verlor den Krieg, als er demokratische Reformern verlangte, und Sonam, im siebten Monat schwanger, Spottverse auf der Bühne sang. Ich sagte zu ihnen: >So geht es nicht!< Früher hielt ich viel vom Heldentot, aber dieser Ehrgeiz hat mich inzwischen verlassen. Sie erwiderten, Buddhas Hand sei ihnen genügend Schutz. Als man die Thankas aus dem Haupttempel in Drepung holte, veröffentlichte Rigdzin einen Leitartikel, der ihre Rückkehr im dramatischem Ton in Frage stellte.
    Damit hatte er die Grenzen überschritten: Er verlor seinen Chefsessel, und Drepung rief zu Protesten auf. Die Mönche trugen die Flagge mit der Sonne und dem Schneeleoparden, forderten in Sprechchören die sofortige Rückgabe der Thankas. Viele Menschen schlossen sich dem Zug der Demonstranten an, alle liefen wie die Hasen und schrien, sogar alte Leute und Mütter mit kleinen Kindern.
    Die Tibeter sind ein sentimentales Volk. Sonam und Rigdzin verteilten Flugblätter und verbotene Fotos vom Dalai Lama.
    Opferrausch, ich kenne das. Es ist, als ob der Himmel sich dreht.
    Zu Beginn also warfen die Polizisten Tränengasbomben, drängten 143
    die Menge mit elektrischen Schlagstöcken zurück. Als die ersten Steine flogen, schossen die Polizisten. Der Mönch mit der Flagge war sofort tot. Rigdzin hob die Flagge auf und trug sie weiter, worüber die Chinesen nur froh sein konnten. Ein Scharfschütze schoß aus dreißig Metern und spaltete ihm den Schädel. Aus. Sonam warf sich schreiend über ihn. Wolken von Tränengas wehten über den Platz. Ich teilte einige Kinnhaken aus und zerrte Sonam weg, bevor die Polizei sie fassen konnte. Ihre Tschuba war rot und naß; ich dachte, es sei Rigdzins Blut, zumal sie wie erstarrt war, keinen Schmerzenslaut von sich gab. Daß sie verletzt war, merkte ich erst später. Die Wunde war ungefährlich, aber die Kugel mußte entfernt werden. Einen Arzt aufzusuchen, kam nicht in Frage. Die Chinesen hatten überall Spione, und die Zeit war knapp. Sonam fragte mich:
    >Kannst du es tun?< Ich warnte sie vor den Schmerzen. Ich sollte sie fesseln und knebeln, sagte sie. Also band ich ihre Handgelenke über dem Kopf fest zusammen und steckte ihr ein Stück Stoff als Knebel in den Mund. Dann hielt ich das Messer über das Feuer, um es zu reinigen, und machte mich an die Arbeit. Ich war froh, daß sie bald das Bewußtsein verlor. Ich gönnte ihr ein paar Stunden Schlaf; zur Stunde des Tigers machten wir uns auf den Weg. Einige tausend chinesische Soldaten lagen rund um die Hauptstadt in ihren Garnisonen; die ganze Nacht rollten Militärfahrzeuge über die Zufahrtsstraßen. Vor Morgengrauen mußten wir den Kyiuschu-Fluß überqueren. Ich kannte eine Sandbank, die sich weit in den Fluß hinaus erstreckte. Das Wasser war reißend, aber nicht tief. Mein Pferd ging schräg gegen die Strömung in den Fluß und erreichte mühelos das andere Ufer. Ein Gestrüpp gab uns bis zum ersten Tageslicht Deckung. Dann ritten wir dem Hochland entgegen.«
    Er trank noch einen Schluck. Ich starrte ihn an. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, daß die Luft in Bewegung geraten war, daß etwas Unsichtbares von weither herangeweht kam. Eine plötzliche Gänsehaut überlief mich.
    »Sie sind mit dem Pferd von Lhasa hergekommen?«
    »Ein Wagen hätte die Strecke unter keinen Umständen geschafft.«
    Meine Unruhe war verworren, zusammenhanglos; sie stand mit gewissen Dingen in Verbindung, die ich nicht ergründen konnte.
    Irgendwo in mir war eine vage Erinnerung. Was war es nur? Ich holte tief Luft.
    »Wie lange haben Sie für

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