Die Tibeterin
Bruttosozialprodukt im Weg.
»Die Han-Chinesen sind Meister im sprachlichen Purzelbaumschlagen«, sagte Pema. »Und die USA wollen 450
Millionen Chinesen mit amerikanischer Unterwäsche beglücken.
Immerhin drehen sie Filme über den Dalai Lama. Aber auch nur, solange Seine Heiligkeit in Mode ist.«
Pema war ohne Illusionen. Ihre Eltern, wohlhabende Geschäftsleute, hatten seit den frühen fünfziger Jahren in Neu Delhi gelebt. Pema war in einem englischen Internat erzogen worden. Ihre politische Weltanschauung war mit einem starken Erinnerungsaroma an Mao, Trotzki und Rudi Dutschke gewürzt. Das Erwachen war brutal gewesen. Die Welt des schönen Scheins explodierte mit erheblichem Radau. Pema ließ sich nicht gerne – wie sie sagte –
»verarschen«. Sie schlug sich noch ein paar Jahre mit der Frage herum, was Gut und was Böse sei, aber zuletzt hörte die Frage auf, sie zu beschäftigen.
Dorje Sandup pustete über seinen Tee.
»Jede Festnahme von Demonstranten löst eine neue Verhaftungswelle aus. Die Polizei übt Vergeltung. Es kommen 130
schreckliche Dinge vor.«
Ich dachte an Chodonla und war sehr erschüttert. Aber Dorje Sandup sagte, daß die Unruhen nie lange anhielten.
»Das Volk ermüdet schnell und fügt sich wieder in das Schema.«
Irgendwelche Superhirne sind zu der Überzeugung gekommen, daß man die Flucht rebellischer Elemente nicht um jeden Preis verhindern sollte. Sobald die Querulanten das Weite suchen, beruhigen sich die Massen. Der Prozeß der Sinisierung geht weiter; alles läuft wie geölt in Big Brothers schöner neuer Welt.
»Darin liegt die Gefahr. Die Chinesen zermürben den Widerstand, machen das Volk apathisch.« Dorje Sandup schlürfte trübsinnig ein paar Schlucke. »Aber kann man es den Menschen verübeln, wenn sie versuchen, ihr Leben zu retten?«
Und die Flüchtlinge kamen; solange die Pässe noch nicht zu tief verschneit waren, trafen sie fast täglich ein. Sie hatten gefährliche Umwege auf sich genommen, um nepalische Grenzposten zu umgehen. Man wußte, daß die Zöllner die Flüchtlinge erpreßten, ihnen das letzte Geld aus der Tasche zogen, so daß sie völlig mittellos über die Grenze kamen. Aus Angst, entdeckt, aufgehalten oder gar zurücktransportiert zu werden, hatten sie sich kaum Rast gegönnt. Alle waren abgemagert und erschöpft. Einige waren schneeblind, und fast alle hatten irgendwelche Erkrankungen der Atemwege. Viele der Flüchtlinge litten unter einer Mittelohrentzündung. Tagelang waren sie durch eisigen Wind, über spiegelglatte Flächen gewandert. Ein plötzlicher Schneefall konnte den Tod bringen. Nicht selten litten Flüchtlinge unter bösen Erfrierungen. Mathai Shankar und ich mußten einem alten Mann beide Füße über den Knöcheln abtrennen. Der Verstümmelte bekam Asyl im Kloster. Als ich ihn besuchte, drückte er meine Hand; er sei zufrieden, sagte er, daß er sein Leben hier beenden könnte. Wir impften die Flüchtlinge gegen Malaria, Hepatitis und Cholera, denn Tibeter sind das subtropische Klima nicht gewöhnt. Viele wollten weiter nach Indien, wo der Dalai Lama residierte und sie Verwandte hatten. Wer noch keinen Pilgerpaß hatte, konnte jetzt einen beantragen. Offiziell wurde den Tibetern der Flüchtlingspaß nur dann gewährt, wenn sie beweisen konnten, daß sie in Tibet persönlich in Gefahr waren. Die UNO sah nur diese als »echte Flüchtlinge« an. Oft kamen Zehn- oder Elfjährige in Begleitung Erwachsener, die nicht ihre Eltern waren. Sie wurden auf Schleichwegen über die Grenze geschmuggelt, damit sie im Ausland 131
eine bessere Ausbildung bekamen, ihren Glauben und ihre Muttersprache bewahren konnten. Wir brachten sie in das »SOS-Kinderdorf«, das nach dem Prinzip von Hermann Gmeiner in Pokhara aufgebaut worden war. Dort lebten die Kinder in kleineren Gruppen unter der Leitung einer »Familienmutter«. Nach der Volksschule können sie auch das Gymnasium besuchen. Die Eltern hatten sich nicht von ihren Kindern getrennt, ohne ihnen genau zu sagen, worum es ging. Wir hörten herzzerreißende Geschichten.
Diese Halbwüchsigen würden ihre Eltern vielleicht nie wiedersehen.
Das machte sie frühreif und melancholisch. Sie wußten, welches Opfer ihre Eltern für sie gebracht hatten, und auch, welches ihnen selbst abverlangt wurde.
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15. Kapitel
E nde September reise Karma nach Kathmandu, um Material für die Krankenstation zu besorgen. Wir hatten etwas Geld übrig, und der Ausschuß hatte den Kauf genehmigt. Ich fuhr mit
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