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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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rückten. Die Frau konnte sich kaum auf den Beinen halten; ihr Röcheln kam und ging mit den stockenden Atemzügen. Der Mann hielt mir ein Fellbündel hin, aus dem ein wimmernder Laut kam.
    »Was hat das Kind?« fragte ich.
    Die Frau bewegte die Lippen; ein Hustenanfall zwang sie geradezu in die Knie. Die Antwort kam von dem Mann, von dem ich unter der Kapuze nur ein braunes Gesicht, scharfe Augen und verfilzte Haarsträhnen sah.
    »Sie hatte keine Milch«, sagte er. »Sie fürchtet, daß es sterben wird.«
    Nach seinem Aussehen hatte ich eine andere Stimme erwartet. Sie war sehr tief, heiser und weich zugleich, und hatte einen leisen Tonfall. Eine heimliche Stimme, kam mir in den Sinn, als ob dieser Mann es sich schon seit Jahren abgewöhnt hätte, laut zu sprechen.
    Inzwischen wickelte ich das Bündel auseinander. Zum Vorschein kam ein Baby, in dreckige Tücher gewickelt. Es war ein Mädchen, nicht älter als zwei, höchstens drei Wochen, von erschreckend geringem Gewicht. Die Knochen zeichneten sich unter der dünnen Haut ab, sein Köpfchen war völlig kahl, die trüben Augen verklebt.
    Der winzige Körper war mit eiternden Wunden bedeckt.
    Kalkmangel. Der Atem war schwach, aber es hatte weder Fieber noch Erfrierungen. Offenbar hatte es der Mann durch seine Körperwärme geschützt. Etwas zögernd sagte ich zu der Mutter:
    »Die Kleine kann sich erholen. Sie muß viel trinken. Aber sehr vorsichtig, sonst nimmt ihr Magen die Nahrung nicht auf.« Die Frau straffte sich ein wenig; sie tauschte einen Blick mit ihrem Mann; beide deuteten ein Lächeln an. Ich rief Yangdol, eine Pflegerin, die Erfahrung mit Säuglingen hatte. Yangdol hielt das Baby mit geübtem, liebevollem Griff und lächelte der Mutter, die vor Schwäche taumelte, beruhigend zu. Ich nahm behutsam ihren Arm und führte sie ins Sprechzimmer, während ihr Mann draußen wartete. Ich half der Frau, sich zu entkleiden. Sie zitterte, und an ihrem Hals klopfte der Puls ungleichmäßig und stürmisch. Ich erfuhr, daß sie Sonam Yangtschen Delok hieß und aus Lhasa stammte. Unter ihrer dickwattierten Jacke trug sie die tibetische Tracht. Ihre Kleider waren entsetzlich zerrissen und fleckig, aber von 135
    gutem Stoff; ihre abgenutzten Stiefel waren mit Pelz gefüttert. Als ich ihren Oberkörper entblößte, erblickte ich unterhalb des Schlüsselbeins eine Schußwunde, schlecht vernarbt und sehr häßlich anzusehen.
    »Die Chinesen… «, flüsterte Sonam. Ich untersuche die Verletzung.
    »Sie haben Glück gehabt. Ein paar Zentimeter tiefer, und die Kugel hätte Ihre Lunge zerfetzt.«
    Sonam nickte. Sie wußte es offenbar.
    »Atan hat die Kugel beseitigt. Er hat mir auch… bei der Geburt geholfen. Ich… ich fühlte mich entsetzlich. Aber ich mußte fliehen.
    Sie hätten mich festgenommen und mein Kind getötet… «
    Ihre Sprache war die einer gebildeten Frau. Der Arzt, der sie behandelt hatte, schien sich wenig um die Wunde gekümmert zu haben. Das Gewebe war schlecht nachgewachsen, hatte sich entzündet und Wülste gebildet. Schlampige Arbeit! dachte ich. Die Perfektionistin in mir war verärgert. Sonams Augen glänzten vor Fieber, ihre Lippen waren trocken wie Seidenpapier. Nachdem ich sie untersucht hatte, sagte ich: »Sie haben Lungenentzündung und müssen ein paar Tage liegen. Sobald es Ihnen besser geht, können Sie das Kind zu sich nehmen.«
    Ich hoffte, daß es durchkommen würde, aber das sagte ich ihr nicht. Nach den körperlichen und psychischen Strapazen setzte die Reaktion ein: Sonam begann zu zittern und mit den Zähnen zu klappern. Sie ließ sich jetzt gehen, und war nur noch halb bei Bewußtsein. Ich gab ihr ein leichtes Beruhigungsmittel. Die Pflegerin kam, um Sonam zu waschen. Die Kleider warf sie in eine Ecke. Ich ging nach draußen. Sonams Mann saß an der Wand, in sein Fell gehüllt. Die Kapuze fiel auf seine Schulter, als er sich schwerfällig erhob. Sein Haar, mit roten Bändern geflochten, hing wirr um sein Gesicht, das vor Schmutz und Schweiß fast ölig glänzte.
    »Wie geht es ihr?« fragte er dumpf.
    »Sie sind rechtzeitig gekommen.«
    Er nickte und rieb sich die Stirn. Ich sagte: »Ihre Frau ist sehr schwach. Sie können sie in zwei, drei Tagen besuchen. Dann wird es ihr besser gehen.«
    »Sie ist nicht meine Frau«, sagte er.
    Er sprach nicht wie ein einfacher Bauer. Ich konnte seine leise, klare Stimme nicht mit seinem verwilderten Aussehen in Verbindung 136
    bringen.
    »Die Verletzung sieht schlecht aus«, fuhr ich fort. »Die

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