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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Nebel gehüllt. Schwach erkannte ich am anderen Ende des Platzes das goldene Emblem des Klosters. Hastig, mit gesenktem Kopf, ging ich durch den Garten auf das Haus zu, drückte leise die Klinke hinunter. Ein Gefühl von seltsamer, nervöser Intensität vibrierte in meiner Brust. Kaum trat ich über die Schwelle, da vernahm ich im dunklen Raum eine Art Schleifen, so leise, daß ich zwei Herzschläge lang zweifelte, überhaupt etwas gehört zu haben. Fast im selben Augenblick schien sich die Dunkelheit zu bewegen; ein undefinierbarer, warmer Geruch schlug mir entgegen. Ich hörte ein leises Klicken, sah Lichtfunken auf einer Klinge blitzen. Dicht vor mir stand ein pechschwarzer Schatten. Das stoßbereite Messer war auf meine Kehle gerichtet, doch nur einen Atemzug lang – dann senkte sich die Klinge. Ich holte tief Luft und bemühte mich, ruhig zu sprechen.
    »Sie haben mir Angst gemacht.«
    Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, nur seine reglose Gestalt in der Dunkelheit. Das Weiße seiner Augen schimmerte im Lichtschein, der durch den offenen Türspalt in den Raum fiel.
    »Es tut mir leid.« Atans leise, klare Stimme klang im Gegensatz zu meiner vollkommen ruhig. »Geräusche stören mich nicht. Nur die ungewöhnlichen. Sie haben die Tür zu leise geöffnet.«
    »Ich wollte Sie nicht wecken.«
    »Ich wache sehr leicht auf«, sagte er.
    Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, ich sah ihn jetzt deutlicher. Er trug nur Jeans, sein Oberkörper unter dem kupferbraunen Haar war nackt. Weil ich so dicht vor ihm stand, wurde sein Geruch noch gegenwärtiger; ich versuchte mich an irgendetwas Vergleichbares zu erinnern. Mir kam in den Sinn, daß die Nomaden das Fett von Lammnieren mit Spänen von Pferdehufen einkochen, es mit Moschusöl, Birkensaft und Holunderrinde mischen. Sie machen daraus einen Balsam, der die Muskeln entspannt, die Mücken verscheucht und die Haut bei starken Temperaturschwankungen geschmeidig hält. Der Geruch, den ich jetzt einatmete, ein leicht öliges, eindringliches Aroma, mußte seine Haut seit frühester Kindheit tränken. Ein Geruch aus der Welt der Steppen und Salzseen; er kam von dorther, wo der Sturm einem Reittier die Beine unter dem Leib wegschlägt, wo es nach Rohfellen 155
    und Feuerstätten aus Mist riecht, nach Winterschnee und Sommergras, nach tiefer, von modrigen Wurzeln durchsetzter Erde.
    Ein Geruch jenseits der Träume; ich konnte nicht einmal sagen, ob ich ihn als angenehm empfand oder nicht. Er strömte durch alle Poren seiner Haut, weckte merkwürdige Bilder und Assoziationen in mir. Ich konnte mich nicht erinnern, je etwas ähnliches empfunden zu haben. Hätte das Begehren einen Geruch gehabt, wäre es dieser gewesen. Wie lange wir so verharrten, weiß ich nicht. Meine Wahrnehmung in diesem Augenblick war merkwürdigerweise nicht auf Atans Erscheinung gerichtet, sondern auf einen nebensächlichen Gegenstand. Um Atans Hals hing eine lederne Schnur, und daran baumelte ein etwa handtellergroßes Amulett. Eine Art Kästchen aus schwerem Silber, von der Zeit bereits geschwärzt, mit Türkisen und Korallen besetzt. Ich wußte, das Kästchen enthielt ein Pergament, mit alten Beschwörungsformeln beschriftet. Es diente dazu, seinen Träger vor Krankheiten zu schützen und im Kampf die Kugeln fernzuhalten. Einige Momente lang warf der blaßrote Lichtschein aus der Tür pupurne Funken auf das Silber. Dann schlug die Tür leise zu; Atan mußte sie geschlossen haben. Dunkelheit umfing uns.
    Wir standen Brust an Brust, ich fühlte das Heben und Senken seiner Atemzüge. Mein Mund war trocken; die Schläge meines Herzens mußte er ebenso hören wie ich. Er verströmte eine seltsam fließende, elektrische Kraft. Er war ein Mensch, der sich jeden Augenblick fest in der Gewalt hatte, selbst im Schlaf mit allen Sinnen auf Selbstbewahrung bedacht war. Seine Selbstsicherheit hatte etwas fast Gespenstisches. Er kam mir vor wie der Bewohner einer fremden Welt und gleichzeitig wie der einzig reale Mann, den ich kannte.
    Aber da war in ihm noch etwas anderes, etwas Schemenhaftes, das ich nur mühevoll deutete. Er schien, mit Wesen und Sein, den Vorfahren zu gehören, die ihn zum Leben erweckt und ihn ihrer Gesinnung und ihrer Bedürfnisse entsprechend gestaltet hatten. Nun waren sie dahin, erloschen wie das rauchige Licht eines Herdfeuers; in Atans hohlwangigem Gesicht lag die Einsamkeit des Überlebenden, die Traurigkeit eines enteigneten Volkes. Doch gleichzeitig fühlte ich in ihm eine echte,

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