Die Tibeterin
der Krankenstation herrschte aufgeregtes Kommen und Gehen.
Ein paar Mönche kauerten trübsinnig im Vorzimmer. Ihre kahlgeschorenen Köpfe ragten aus den Umhängen wie Vogelköpfe.
Mathai Shankar machte seine Instrumente bereit und lächelte mir unglücklich zu.
»Danke, daß Sie gekommen sind.«
»Wie geht’s dem Jungen?«
»Schlecht.«
Ich ging in den kleinen Waschraum und benutzte die Wasserreserve, um mir gründlich die Hände zu waschen und zu desinfizieren. Dann zog ich einen frischen sterilen Kittel an, streifte sorgfältig die Gummihandschuhe über, Kappe und Mundschutz. Im Operationssaal lag der Novize schon in der Narkose. Ein schmaler Dreizehnjähriger, mit langem, kindlichem Hals und schmalen Gelenken. Seine Haut glühte. Es war höchste Zeit.
Die Operation begann, und ich vergaß meine Gefühlsregungen.
Mathai Shankar und ich arbeiteten lange und konzentriert im Licht der Neonröhren. Als wir den Einschnitt geschlossen hatten und ich mit dem Nähen fertig war, dämmerte es bereits. Mathai Shankar nahm den Mundschutz herunter und nickte mir zu. Auf seiner Stirn schimmerten kleine Schweißtropfen.
»Ich denke, daß er durchkommt. Ein Junge in dem Alter hat Reserven.«
Er sprach mit besorgter Hingabe – ein Arzt, der mit dem Herzen dabei war. Wir fuhren den Novizen auf dem Rolltisch aus dem Operationssaal. Nach einer weiteren halben Stunde bekam der Junge eine Tropfeninfusion und sank aus der Narkose in den Schlaf. Etwas später saßen wir in dem kleinen Büro des Chefarztes, neben dem Vorzimmer. Natara hatte Tee und heißen Toast für uns gemacht.
Mathai Shankar hatte geschwollene Augen vor Müdigkeit. Er lächelte dennoch.
»Sie sind eine vortreffliche Chirurgin. Es macht Freude, Ihnen zuzuschauen.«
Ich erwiderte matt sein Lächeln.
»Auch bei schlechter Beleuchtung?«
Er bot mir eine Zigarette an. In uns war jener Friede, den wir stets fühlten, wenn unsere Hände die Not eines Kranken gelindert und 153
geheilt hatten. Die ganze Zeit hatte ich mich gezwungen, nicht an Atan zu denken; ich hatte es mit einer so übermäßigen Energie getan, daß ich mir dabei mehr als einmal lächerlich vorgekommen war.
Nun unterhielt ich mich über dieses und jenes, über den sturen, dummen Widerstand gewisser Mönche, die Eingriffe menschlichen Körper verweigerten, bis es – nicht selten – zu spät war. Der Novize hatte Glück gehabt: Ein Lama hatte es mit der Angst bekommen und ihn zur Untersuchung geschickt.
»Es war fünf vor zwölf.«
Mathai Shankar meinte es bildlich. Wir tranken Tee, mit Kardamon gewürzt. Wir stellten uns die Frage, was Glaubensapostel auf der ganzen Welt veranlaßte, sich gegen jeden Fortschritt zu stellen, und fanden nur eine Antwort: Sie fürchteten, ihre Privilegien zu verlieren. Mathai Shankar war ein Idealist, der sich über die Leiden der Massen bis zur Wut oder zum masochistischen Mitleid entrüsten konnte. Er träumte von einem ethischen Weltgewissen in der Entwicklung der Staaten und der religiösen Systeme. Ich brachte ihn auf den Boden zurück.
»Nicht alle Länder sind gleich weit entwickelt. Die Entfernungen kann man in Stunden, die Unterschiede der Mentalität in Jahrhunderten messen.«
Er seufzte dazu. »Ich glaube aber an den Fortschritt. Das ist eine entscheidende Sache, und ich kann sie einfach nicht als nebensächlich betrachten.«
Mathai Shankar nahm das Leben ernst. Ein Scherz tat ihm ab und zu ganz gut.
»Vergessen Sie dabei nicht, daß sich unser Gehirn in Maß und Form nach der letzten Eiszeit nicht verändert hat. Es wird sich auch in den nächsten Jahrtausenden nicht weiterentwickeln.«
Er entspannte sich und lachte; ich lachte auch. Wir waren beide todmüde, hellwach und überdreht. Bevor ich ging, machte ich eine Runde durch die Krankenzimmer, ging von Bett zu Bett. Es war kurz vor Tagesanbruch, die Patienten schliefen. Nur einige waren wach; ihre Augen folgten mir, als ich die Reihen entlangging. Sonam lag in tiefem Schlaf. Leise trat ich an ihr Bett, fühlte den Puls und legte die Hand auf ihre Stirn. Die Spritze hatte gewirkt, das Fieber war gesunken. Ihr Baby wurde von einer Tibeterin gestillt, die gerade ein Kind geboren und zuviel Milch hatte. Säuglinge haben mehr Kraft, als man annimmt. Es war gut möglich, daß die Kleine am Leben blieb.
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Im zunehmenden Morgenlicht wusch ich Gesicht und Hände im kalten Wasser, glättete mein Haar vor dem Spiegel und trat nach draußen. Der Tag wollte gerade erst beginnen. Jetzt war alles in
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