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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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nochmal – entwürdigend.
    Ich fühlte mich unsicher, aufdringlich, ratlos. Es lag in meiner Natur, jede Frage im Geist minutiös zu zergliedern. Dabei ging ich stets von dem aus, was ich tatsächlich sah und empfand, von einer genau definierbaren Tatsache also. Hier trat etwas Unberechenbares in Erscheinung, eine beunruhige Tatsache, die ich nicht sezieren konnte. Und so schlief ich ein.
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18. Kapitel

    I ch lag, das Gesicht zum Fenster gekehrt, und die Morgensonne schien hell. Der Himmel war blau wie Glockenblumen, und über dem Klosterdach schwang sich ein Taubenschwarm empor. Die Mönche waren bei der Andacht; die Stimmen erklangen gleichmäßig und summend, und die Trommel pochte wie ein stetiges Herz. Ich konzentrierte mich auf den Gedanken, was jetzt zu tun war. Atans Kopf lag schwer auf meinem Arm. Die langen, federnden Locken in der Farbe reifer Kastanien waren über meine Schultern gebreitet.
    Mein Arm begann zu schmerzen, und ich bewegte mich. Da bewegte auch er sich, wandte sich mir mit blinzelnden Augen zu. Er berührte meinen zurückweichenden Arm; seine tastende Hand schloß sich um mein Handgelenk. Verspätet zuckte ich zurück, ließ mich aber doch ein ganzes Stück hinabziehen, tiefer und tiefer, bis meine Lippen seine Schulter berührten. Verwirrt und fasziniert verlor ich mich in dem dunklen Geruch seiner Haut, wünschte nichts sehnlicher als wieder hinabzusinken in die warme, schläfrige Fellkuhle und ewig mit ihm darinzubleiben. So weit ist es also mit dir gekommen, Tara, du sentimentale Gans! Als ich den Blick hob, begegneten sich unsere Augen. Da sah ich, wie sein Gesicht erstarrte, sich mit diesem abwesenden Ausdruck überzog. Sein langer, brauner Körper war reglos wie ein Baum oder wie eine Schlange auf einem Stein. Etwas war in ihm, für das ich schwer eine Bezeichnung finden konnte, eine Unsicherheit, die sich mit meiner deckte. Das machte mich von einem Augenblick zum anderen sachlich. Ich streckte mich neben ihn aus. Da er nichts sagte, blieb ich auch stumm; doch etwas bedrückte mich an seiner Stille, und schließlich brach ich das Schweigen.
    »Wer bist du?«
    Eine alberne Frage, zugegeben, aber ich konnte nicht klar denken.
    Er führte sein Leben, wie er es für richtig hielt. Ich hätte längst wissen müssen, daß Fragen zwecklos sind, und daß Menschen ja doch nur so viel verraten, wie sie sich vorgenommen haben. Aber es mochte die richtige Frage gewesen sein, denn er antwortete nach einer Pause.
    »Ich bin ein Toter auf Bewährung.«
    Mein Magen krampfte sich zusammen. Über die halbe Weltkugel hinweg, über den Abgrund der Erinnerung, wehte Tashis Stimme an 161
    mein Ohr: »Du weißt ja, er ist schon lange tot. Er sah das rote Herz Buddhas und starb. Mit ihr – als er sie tötete… «
    Das, oder etwas ähnliches, hatte Tashi gesagt. Was um alles in der Welt mochte das bedeuten? Mein Herz pochte heftig. Ich wußte nicht, was ich tun oder sagen oder wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so unbehaglich gefühlt.
    »Das sind wir alle«, entgegnete ich brüsk, worauf er in schallendes Gelächter ausbrach. Es war wirklich ganz erstaunlich, wie Tragik und Unbeschwertheit in dem Herzen dieses Mannes nahe beieinander wohnten. Als er wieder zu Atem kam, sagte er:
    »Das Leben bringt uns so viel Übel, daß es uns ebenso viel Genuß schuldet. Das, was wir hier machen, ist ein Teil davon.«
    »Dagegen läßt sich nichts sagen.«
    Er fuhr im gleichen Ton fort:
    »Wir bieten uns an; die Person, die darauf eingeht, tut es, weil sie Lust dazu hat.«
    »Ganz umsonst ist es nie.«
    »Das kann man wahrhaftig, ohne sich zu irren, behaupten.«
    Er lächelte. Wir lachten beide.
    Der Augenblick der Befangenheit war vorbei. Die Sonne fiel auf sein Gesicht mit der kaffeebraunen Haut, den ausgeprägten Wangenknochen, den üppig geschwungenen Lippen; ein Gesicht, das die Sonne, der Wind, die Müdigkeit und das Alter gezeichnet, aber noch nicht verbraucht hatten. Wie bei den meisten Asiaten war sein Bartwuchs spärlich, so daß die untere Hälfte seines Gesichtes jugendlich wirkte im Gegensatz zu der oberen Partie mit der Adlernase, dem hervorstehenden Jochbein, den fast violett schimmernden Augen. Unsere Beziehung hatte sich unmerklich gewandelt. Zu dem körperlichen Verlangen war Vertrautheit gekommen. Sie war den Umweg über das Spiel unserer Körper gegangen; man muß dem anderen beim Liebesakt trauen, sonst ist es Mühsal statt Lust, und ein Risiko obendrein. Ich

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