Die Tibeterin
entscheidende, verschüttete Erinnerung an die Oberfläche meiner Gedanken zu bringen.
Er sagte, langsam und nachdenklich:
»Sie erinnern mich an jemanden.«
Wieder das seltsame Prickeln. Ich spürte – sah buchstäblich – die Erregung in mir aufsteigen.
»Ach!« sagte ich beherzt. »An eine Frau, die Ihnen nahe steht?«
Er nickte, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich schluckte.
»Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«
»Sie meinen, warum Sie mich an sie erinnern? Ich weiß es nicht.
Es ist schwer zu sagen. Ich habe darüber nachgedacht. Die Form Ihres Gesichtes? Ihre Stirn? Ihr Haaransatz? Das Muttermal vielleicht? Kommt es vor, daß Sie es schwarz schminken?«
Mich erfaßte ein Zittern. Mein Gesicht wurde heiß. Ich flüsterte rauh: »Nein. Eigentlich nie.«
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Er gab keine Antwort; in dem dunklen, scharfen Gesicht verengten sich die schwarzen Augen, als sie von mir abschweiften und sich starr auf die Tür richteten. Das von ihm wahrgenommene Geräusch –
ein leises Klopfen – hörte ich erst ein paar Atemzüge später.
Gleichzeitig bemerkte ich, wie sich Atan unmerklich entspannte; diesem Mann entging wahrhaftig nichts, seine Sinne waren wachsam wie die eines Tieres. Ich stand langsam auf, die Augen unverwandt auf ihn gerichtet, ging an die Tür und öffnete. Vor mir, in der Dunkelheit, stand Natara, die nepalische Nachtschwester, und entschuldigte sich atemlos. Mathai Shankar schickte nach mir. Ein Notfall. Um zwei Uhr früh hatte man einen Novizen aus dem Kloster gebracht. Bauchfellentzündung. Ich rieb mir nervös die Stirn. Ich haßte Notfälle mitten in der Nacht.
»Gut… ich komme sofort.«
Natara nickte erleichtert, verschwand ebenso rasch, wie sie gekommen war. Der Augenblick der Verwirrung war vorbei.
Wortlos begann ich, Teller und Schüsseln ineinander zu stellen.
Wasser war nicht da, das schmutzige Geschirr mußte bis morgen warten. Ich sah, wie Atan sich erhob, seinen Fellumhang aus dem Gürtel zog und um die Schultern schlang. Sein Schatten glitt über die Wände, und die Messingschalen auf dem Hausaltar warfen kleine Goldfunken.
»Danke für das Essen. Ich will mir jetzt einen Platz zum Schlafen suchen.«
Ich antwortete, geistesabwesend:
»Sie können hierbleiben, wenn Sie wollen. Meine Cousine ist in Kathmandu, und ich habe eine Notoperation. Ich bin mindestens drei Stunden weg – wenn alles gut geht.«
Er sah sich im Raum um, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Sie haben viel Ramsch. Aber auch schöne Sachen. Haben Sie keine Angst, daß ich etwas mitgehen lasse?«
Ich deutete auf den Hausaltar.
»Buddha wacht.«
Er lachte kurz auf.
»Schön. Ich werde beten: fern von mir die Versuchung, etwas in dieser Art… «
Ich holte eine Steppdecke und wollte ihm ein Kissen geben, doch er schüttelte den Kopf.
»Ich brauche nie ein Kissen. Höchstens meinen Sattel. Ein Mann kann nicht gut hören, wenn ihm ein Kissen die Ohren verstopft.«
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»Aber Sie schlafen doch nachts?«
»Gewiß. Aber ich wache sehr leicht auf. In Tibet ist das besser. «
Ich starrte ihn an.
»Haben Sie nie daran gedacht, daß Sie in Nepal ruhig schlafen könnten?«
Er bedachte mich mit einem langen, dunklen Blick. Seine Worte fielen sanft in die Stille, die meine Frage hinterlassen hatte.
»Doch. Ich glaube, daß ich daran gedacht haben muß.« Ich zog meine Windjacke an und ging. Die Nacht war klar, die leuchtenden Septembersterne waren wie weißglühende Funken, die der Wind weit über den schwarzen Himmel gestreut hatte. In ihrem Licht lag das Tashi Packhiel Camp totenstill da. Es roch nach Rauch, nach getrocknetem Dung. Ich atmete ein paarmal tief aus und ein. Kein Klopfen mehr in der Stirn. Sei ruhig, Tara. Der Wolf hat die Nahrung angenommen, den Lagerplatz auch. Augen erfinden eigene Gestalten. Träume sind unberechenbar. Jemand hatte von einem Traum gesprochen. Wer nur? Ich war im Begriff zu verstehen, daß es etwas Gemeinsames gab zwischen ihm und mir. Das Erkennen kam langsam – aber es kam schließlich doch. Und es war keine Überlegung oder Vermutung, es war eine Eröffnung. In jener Nacht, um zwei Uhr früh, ging ich zögernd einige Schritte, blieb in der Dunkelheit stehen und hörte die Stimme meines Vaters. Und dann endlich brachte ich die Dinge miteinander in Verbindung. Meine Welt. Die Welt meines Vaters. Ich sah beide einen Bogen machen, wie zwei scharfe, glitzernde Mondsicheln. Sie trafen sich in ihm, in dem Reiter, und spalteten ihm das Herz.
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17. Kapitel
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