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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Abschlußprüfung, die über die Zulassung zu einem Universitätsstudium entscheidet, verlangt, daß die Schüler in allen Fächern die Lehrbücher durchgearbeitet haben. Und wie sollten tibetische Kinder das schaffen? Sozialer Aufstieg und berufliche Karriere hängen ohnehin von den guanxi – den Beziehungen – ab, die tibetische Eltern selten haben. Nur Tibeter, die in der Verwaltung arbeiten, schaffen es manchmal, ihre Kinder in chinesischen Klassen mitlaufen zu lassen.
    Diese Kinder werden dann wie Chinesen, sie wachsen auf, ohne in ihrer eigenen Sprache lesen und schreiben zu können. Das ist für uns Tibeter das größte Problem. Hochtrabende offizielle Parolen vertuschen die unerfreuliche Wahrheit: Die Ausbildung der Tibeter ist miserabel und soll es bleiben. Ziel und Zweck ist, unsere Kultur aus dem Weg zu räumen und ins Völkerkundemuseum zu verbannen.«
    Ich hielt wortlos mein Knie umklammert. Atan verzog das Gesicht zu einer Grimasse und fuhr fort:
    »Nun gut, Chodonla und Norbu unterrichteten in der gleichen Grundschule, Norbu sah die Mißstände und übte Kritik, wohlwissend, daß er Argwohn damit erregte. Er schickte einen Bericht an die Bildungsbehörde, in dem er alle Fehler aufzählte, die die Chinesen im Schulsystem gemacht hatten. Dafür wurde er gerügt. Wo es sich um Fragen der allgemeinen Politik handelte, durfte es nur eine Meinung geben. Chodonla hatte nie die Möglichkeit gehabt, immun zu werden gegen die Rhethorik, ja, sie war ihrem Zauber bedingungslos erlegen. Norbu war kein durchschnittlicher Mann; es drängte ihn dazu, sich gegen die Zwänge und den Druck der Partei aufzulehnen. Norbus Mutter war gestorben, nachdem sie Schweres durchgemacht hatte. Der Vater war von den Chinesen verurteilt und hingerichtet worden. Die Verwandten waren enteignet worden oder lebten im Exil. Norbus Haus war zugemauert worden; die Dienstboten bettelten auf der Straße. Chodonla fiel auf, daß Norbu gerne stritt, wie gelegentliche und sehr heftige Zornausbrüche mit seiner angeborenen Spottlust im Widerspruch 173
    standen. Er verhöhnte die herrlichen Worte, die alles beschrieben, was Chodonla bis ins tiefste Herz teuer war. Etwas stimmte nicht mehr. Chodonla sah, wie Alkoholismus und Spielsucht die Tibeter apathisch machten. Wie junge Frauen, die gesunde Babys erwarteten, zur Abtreibung gezwungen wurden. Sie fühlte die Verzweiflung über das Massaker an Tausenden von Frauen und Männern. Sie sah wucherndes Elend und arrogante Korruption, abstoßende Krankheiten und bettelnde Hände. Sie begriff die Niedergeschlagenheit der Bevölkerung, die ihren einzigen Trost –
    den Glauben – verboten sah. Aber die Han-Chinesen planten langsichtig. Ihr Sinn für Zweckmäßigkeit brachte diese von Natur aus erfindungsreichen Menschen dazu, höchst komplizierte Gedanken zu entwickeln und Ziele zu verfolgen, die sich so gut wie nie auf eine wirkliche Kenntnis der Probleme stützten. So strebten sie unverdrossen einem Ergebnis entgegen, das ihren Behauptungen auf nahezu groteske Weise widersprach. Chodonla begann, auf fürchterliche Weise darunter zu leiden. Das sichere Haus, das sie um ihr Herz gebaut hatte, zerbröckelte. Die noblen Theorien gerieten in Auflösung, die Revolution zeigte ihr wahres Gesicht. Im neuen China wurde Liebe geduldet, solange sie sich auf gleichgerichtete politische Ideen gründete und die Arbeit nicht störte. Chodonla und Norbu heirateten, ohne daß man ihnen Steine in den Weg legte, sie bezogen ein gemeinsames Zimmer in ihrer Arbeitseinheit. Da beide im Staatsdienst standen, hatten sie jetzt Anrecht auf dreißig jin Tsampa-Mehl und Reis, eine Ration Kohle und einen elektrischen Heizring. Das Bewußtsein, der Besatzungsmacht zu dienen, schürte Norbus Haß, aber er gab sich liebenswürdig und undurchdringlich und kam im allgemeinen mit den Menschen gut aus. Er war, wie gesagt, kein Dummkopf. Man konnte jedoch nicht leugnen, daß er vorlaut war.
    Nach zwei Jahrzehnten politischen Drucks hatten sich die Lebensbedingungen gebessert. Auch erlaubte die Regierung eine gewisse religiöse Freiheit. Das war 1987, als der Dalai Lama vor dem Kongreß in Washington einen Fünf-Punkte-Friedensplan vorstellte und darin die Umwandlung Tibets in eine Friedenszone vorschlug. Die Behörden in Lhasa inszenierten daraufhin eine Hetzkampagne gegen ihn, und es kam im ganzen Land zu Demonstrationen. Die Unruhen griffen um sich. Die chinesische Zentralregierung rief das Kriegsrecht aus. Bis der Aufstand zerschlagen

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