Die Tibeterin
keinerlei Bemerkungen. Sein Blick drückte Wärme aus. Eigentlich eher ein Frauen- als Männerblick. Deshalb fiel es mir so stark auf. Und da waren auch die breiten Schultern, die Narben und die tiefen Furchen in seinem Gesicht, die zu diesem Blick in fesselndem Gegensatz standen. Ich biß mir hart auf die Lippen. Was ich sagen wollte, war kompliziert.
»Du mußt nicht glauben, daß ich sie verurteile. Mir ist die Wahrheit lieber, sogar wenn sie wehtut. Ich sehne mich danach, sie zu sehen, sie in meine Arme zu schließen. Ich weiß, daß sie unglücklich ist und Hilfe braucht. Mein Vater hat das irgendwie geahnt, obgleich das, was er sagte, sehr irreführend war. Ich muß etwas für sie tun, soviel ist sicher! Ich versuche mir einzureden, daß ich das kann. Aber wie? Es ist nicht ohne Risiko. Und ich möchte so gerne verstehen… «
Er schwieg weiterhin. Sein Blick ließ von mir nicht ab; er schwankte zwischen Momenten des Betrachtens meines wirklichen Gesichtes, und solchen, da sein Auge sich auf ein Bild in der Ferne richtete. Und ich stellte mir vor, wie es sein mußte, wenn beide Bilder zu einem einzigen verschmolzen – ein Mysterium, das niemals existieren würde.
Nach einer Weile straffte er die Schultern, wie um eine Schwäche abzuschütteln; sein Blick kehrte zu mir zurück, scharf und aufmerksam wie zuvor. Als er sprach, klang seine Stimme sachlich, als hätte er über das Thema gut nachgedacht und einen Entschluß gefaßt.
»Du bist ihre Schwester. Du hast das Recht, Fragen zu stellen. Und es ist meine Pflicht, dir Antwort zu geben. Daß sie Hilfe braucht, kann man wohl sagen. Wenn ich überhaupt je den Tod gesehen habe, dann in ihrem Gesicht.«
19- Kapitel
M ein Herz stockte. Und obgleich ein heftiger Schmerz über mich hereinbrach, überwand ich das Entsetzen und zwang mich zur Vernunft. Ich preßte meine Hände zusammen, um ihr Zittern zu unterdrücken.
»Was fehlt ihr, Atan?«
»Sie ist krank. Tuberkulose.«
Mir fielen die Symptome ein, die mein Onkel schon vor Jahren an ihr beobachtet und beschrieben hatte. Einen Augenblick lang haßte ich mich, weil ich es nicht bemerkt hatte. Mehr als dumm war ich gewesen: blind! Ich hatte nicht aufgepaßt, die Anzeichen nicht wahrgenommen. Nur mein Vater war sehend gewesen.
»Aber wie konnte es so weit kommen? Tuberkulose ist heilbar! «
»Ich fürchte, da ist nichts mehr zu machen.« Atans Tonfall war düster. »Ihr Lebenswille hat sie verlassen. Sie hat den Kampf aufgegeben, das ist ihr Unglück.«
Ich schüttelte verbissen den Kopf. Irgendeine Hoffnung bestand immer. Ich war es gewohnt, den Kranken meinen Willen aufzuzwingen. Für ein Sichgehenlassen hatte ich nie Verständnis gehabt.
»Was brachte sie in diesen Zustand, Atan? Ihre… Arbeit?«
Er zog die Stirn kraus.
»Es ist nicht nur das. Es ist alles zusammen. Ihre Erschöpfung, ihre Vergangenheit, die Umgebung. Ihr Kind gab ihr bisher den Mut, durchzuhalten. Jetzt hat sie keine Kraft mehr. Wenn nicht die Tuberkulose sie tötet, tut’s eine andere Krankheit. Es kommt auf dasselbe heraus.«
Ich flüsterte rauh:
»Auf einmal?«
»Sie bemüht sich nicht zu leben, weil sterben leichter ist. Ich kann das verstehen.«
Ich sah sein Gesicht vor mir, hager und verschlossen, die Mundwinkel hart, die Augen umschattet. Wie dieser Mann sie lieben muß! dachte ich, man braucht ihn nur anzusehen. Eigentlich liebt er sie viel zu sehr, um von alten Dingen zu erzählen. Aber er wird es tun, weil ich darauf bestehe. Und ich fragte mich, was für ein Mensch Chodonla war, daß sie derartige Gefühle zu erwecken vermochte.
170
»Und das Kind?« fragte ich.
Er verzog bitter den Mund.
»Für die Kleine stehen die Aussichten schlecht. Die paar Verwandte, die Chodonla noch hat, sind am Verhungern. Sie will nicht, daß man ihre Tochter in ein Waisenhaus steckt. Ich habe ihr mein Wort gegeben: Wenn ihr etwas zustößt, werde ich Kunsang über die Grenze bringen. Das Kind soll als Tibeterin aufwachsen, auch wenn es einen chinesischen Vater hat.«
Ich starrte ihn benommen an. Ich hatte das Gefühl, das Opfer eines schlechten, ja eines grausamen Scherzes zu sein. Von Chodonla hatte ich nur verschwommene Vorstellungen. Vereinzelte Lebenszeichen, die, auch wenn man sie vervielfachte, kaum etwas aussagten.
Innerlich betrachtet, hing ich in einem leeren Raum.
»Es klingt abgedroschen«, sagte ich bitter, »aber von dieser Geschichte weiß ich nichts.«
Er antwortete ruhig:
»Was geschehen ist, ist
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