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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Verlegenheit. Doch Atan lachte 166
    nicht. Sein Schweigen war ungewöhnlich. Ich suchte seinen Blick.
    Er schien abwesend. Betäubt war nicht das richtige Wort.
    Versteinert, vielleicht? Die pechschwarzen Augen blickten mich nicht an, sondern durch mich hindurch. Ein beklemmendes Gefühl stieg in mir hoch, und allmählich dämmerte mir die Wahrheit: Ich sah in Tashis Visionen ein chaotisches Durcheinander. Er aber mochte darin die unverfälschten Elemente einer Geschichte erkennen.
    Als er endlich sprach, klang sein Tonfall düster, aber vollkommen beherrscht und merkwürdig respektvoll.
    »Dein Vater… ist er ein Mensch, der in die Schatten blickt?«
    In Europa hatte ich meine Heimatsprache in mancher Hinsicht verlernt; gewisse Nuancen waren mir nicht mehr vertraut. Doch nach kurzem Nachdenken kam mir in den Sinn, daß sich Atans Formulierung auf Menschen bezog, die Zwiesprache mit den Geistern hielten – auf Orakel also. Nomaden haben eine tiefe Ehrfurcht vor der Bedeutung von Träumen. Atan mochte unvergleichlich viel mehr erlebt haben als ein gewöhnlicher Mann seines Volkes. Doch in seinem Blut hatte sich durch Generationen der alte Glauben vererbt. Auf einmal fühlte ich mich unsagbar erleichtert.
    »Du redest von einer… Veranlagung. Auf diese Weise kann man es wohl erklären.«
    Er suchte nicht nach einer tiefenpsychologischen Interpretation.
    »Ein Träumer lauscht den Stimmen all derer, die sich auf der Erde bewegen, auch der Tiere. Er ist eins mit ihnen.«
    Ich stand auf und schenkte frischen Kaffee ein.
    »Aber warum hat mein Vater ausgerechnet dich… gefühlt? Als ob er dich erfunden hätte? Das geht doch nicht, Atan!«
    »Ein Träumer erfindet nichts; er erträumt es. Von allen Lebewesen fließt ständig etwas in ihn hinein, und etwas fließt von ihm zu ihnen.
    Indem er seine Augen schließt, sieht er bis an den Rand er Welt.«
    Mein Geist klammerte sich an eine Vorstellung, die alles erklärte, eine präzise, logische Vorstellung.
    »Könnte es sein, daß du meinen Vater kennst, und ihn bloß vergessen hast?«
    Er kniff die Augen zusammen. Dann sagte er:
    »Es ist nicht so, daß von allen Erinnerungen Bilder bleiben. Jedes Schicksal besteht aus einem einzigen Augenblick. Seine Wirkung überdauert ein Menschenleben.«
    167
    Mein Studium hatte mich das naturwissenschaftliche Denken gelehrt. Atan ging jede Gelehrsamkeit ab; er kleidete seine Gedanken in schlichte Worte. Aber den Kern der Dinge erkannte er sofort. Ich war betroffen.
    »Gänzlich ausgeschlossen ist es nicht.«
    Er kaute gleichmütig.
    »Die Geister erkennen die Geister.«
    Es war denkbar, daß Atans Natur, die im Archaischen wurzelte, mir mit seiner intuitiven Spürkraft weit überlegen war. Unser Leben, jahraus, jahrein, besteht aus Erfahrungen, die tief in unsere Zellen einsickern. Irgendwo in uns ist der Keim, aus dem sich die Erinnerungen entwickeln. Aber was, wenn die Zweige abgestorben sind? Wenn keine Verbindung mehr zur Wurzel besteht? »Du hilfst mir ein wenig zu begreifen, was diese Geschichte bedeuten könnte«, sagte ich. »Die Bedeutung, die sie für mich haben könnte, meine ich… «
    Er nickte.
    »Glaube nicht, daß es für mich anders ist. Das Leben eines Menschen ist kurz, und alles wächst im Dunkeln.«
    Man müßte so weit kommen, so zu sein wie er, dachte ich.
    Nomaden sind stabile Wesen. Die unsichtbare Welt ist keine solche Hürde für sie, wie sie es für die Menschen des Abendlandes sein mag. Vielleicht habe ich zu lange in Europa gelebt.
    Und doch war in Atans Haltung eine gewisse Unsicherheit zu spüren. Ich ahnte mit wachsender Gewißheit den Grund.
    »Du brauchst kein Blatt vor den Mund zu nehmen, Atan. Ich weiß, daß Chodonla nicht mehr als Lehrerin arbeitet.«
    Wir sahen uns an. Seine Lippen kräuselten sich, aber es war kein Lächeln. Ich setzte hinzu:
    »Ich nehme an, daß sie keine Wahl hatte.«
    Er erwog dies. Ein paar Sekunden lang.
    »So ist es auch wieder nicht…«
    »Liebst du sie?«
    Die Frage war mir entschlüpft; ich bereute sie sofort. Diskretion ist bei Tibetern eine Frage der guten Manieren. Daß ich immer wieder das Bedürfnis hatte, den Dingen auf den Grund zu gehen! Aber er zuckte die Achseln und antwortete:
    »Ich weiß nicht. Ich brauche sie.«
    »Es tut mir leid, Atan«, sagte ich, sehr erregt. »Es war albern von mir, das zu fragen. Mein Gefühl für sie beschränkt sich nicht auf den 168
    Wunsch zu erfahren, warum sie… in einem Bordell arbeitet.«
    Er beobachtete mich, machte aber

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