Die Tibeterin
geschehen.«
Meine einzige Führung war nun Atan; wollte ich nicht an Chodonla zweifeln, mußte ich sie durch ihn sehen. Ich schluckte und sagte:
»Mir ist klar, daß sie Schweres durchgemacht hat. Aber ich will jetzt endlich die Wahrheit wissen!«
Er blickte mir fest in die Augen. Ich gab meine Zustimmung durch Kopfnicken. Er war ein Bote aus einer anderen Welt, auf dessen Stärke ich mich einstellen mußte. Doch sobald er zu sprechen begann, fühlte ich einen Schauder, tief in der Gegend des Herzens.
Eine unbekannte Kälte kroch mir den Rücken hinunter. Atans Worte wurden sichtbar wie Bilder; wenn sie gesprochen wurden, blieben sie bestehen. Ich war nicht gegen sie gewappnet. Mir war, als geranne mir das Blut.
Chodonlas Leben, sagte Atan, bestand aus drei Zeitabschnitten.
Der erste setzte ein, als sie von ihrer Familie getrennt wurde. Die Besatzungsmacht hatte begonnen, tibetische Kinder nach China zu deputieren. Sie wurden ihren Eltern entrissen und ins chinesische
»Mutterland« gebracht, um dort kommunistisch erzogen zu werden.
Atan nahm an, daß man das kleine Mädchen auf der Straße aufgelesen hatte. Ein Lastwagen brachte sie nach Beijin. Tibetische Kinder wurden dort in Heimen untergebracht. Das hochintelligente Mädchen fiel auf. Sie besuchte die »Schule der Nationalitäten«, wo sie chinesisch sprechen und schreiben lernte. Man machte ihr klar, 171
daß sie aus einer rückständigen Gesellschaft kam, daß Mönche, Großgrundbesitzer und überfütterte Reiche das tibetische Volk jahrhundertelang geknechtet hatten. Ihr buddhistischer Glaube wurde zunächst milde belächelt, dann als Instrument kultureller Ausbeutung auf schärfste verurteilt. Ihren Lehrern, die nur für die Partei lebten, fiel jede Dialektik leicht; sie löschten ihre Phantasie, paukten ihr Strebsamkeit und Selbstverleugnung ein. China hatte Tibet befreit.
Das soziale Gewissen war geweckt, das Volk zu einem neuen Leben aufgerufen. Chodonla wurde als Lehrerin ausgebildet. Als Werkzeug für eine Veränderung der Gesellschaft war sie von Bedeutung. Sie gehörte zu den Auserwählten; man hatte sie dies feierlich wissen lassen. So kehrte sie mit zwanzig in ihr Land zurück, vom besten und aufrichtigsten Willen beseelt, ihrem Volk zu dienen. Die Ernüchterung traf sie wie ein Schlag. Die Rotgardisten waren über Tibet hergefallen wie Heuschrecken. Lhasa war eine armselige, staubige, schmutzige Stadt. Die Klöster waren geplündert und zerstört worden, Mönche und Nonnen in Arbeitslager verbannt. Die Wälder hatte man abgeholzt, Straßen durch fruchtbares Ackerland gezogen, viele Tierarten ausgerottet. Chodonla, bestrebt, gute Arbeit zu leisten, erlebte, wie die Tibeter ihrer Hingabe und ihren guten Absichten mißtrauten. Sie schämte sich ihrer Verzagtheit, verhärtete ihr Herz. Ja, es war gut und richtig, daß die alte Welt in Trümmern lag; daß Mönche verprügelt wurden; daß offene Lastwagen die
»Feinde des Volkes« angekettet in den Tod fuhren. Im neuen Haus mußte Ordnung herrschen. Ein System konnte die menschliche Natur verändern. Chodonla wollte daran glauben. Sie nahm an Umzügen und Paraden statt, hob die geballte Faust unter flatternden Fahnen und verbarg ihr Haar unter der Kappe mit dem roten Stern.
Atan sprach sehr besonnen, formulierte sorgfältig.
»Chodonlas zweiter Lebensabschnitt begann, als sie Norbu kennenlernte. Norbu war zwölf gewesen, als man ihn gewaltsam nach China verschleppte; alt genug, um sich der Verzweiflung seiner Eltern zu erinnern. Lange Zeit galt er als verhaltensgestört, bis er lernte, seine Gedanken für sich zu behalten. Auch Norbu wurde als Lehrer ausgebildet. Die Chinesen rühmten sich mit Vorliebe, daß sie Tibet »intellektuelle Unterstützung« gewährten. Rhethorik und Realität klafften wie üblich weit auseinander. Es gab in allen Dingen zweierlei Maß, ob es sich um Wohnungen, Gehälter, Vorrechte oder Schulbildung handelte. Das hat sich bis heute nicht geändert. In der Schule sind die Klassen nach Nationalitäten getrennt, wobei 172
chinesische Kinder auf chinesisch unterrichtet werden. Für die Tibeter ist dieser Vorsprung kaum einzuholen: Sie bekommen vom neunten Lebensjahr an nur drei Stunden Chinesischunterricht pro Woche, was ihnen die Aufnahme in die Mittelschule fast unmöglich macht. Tibetische Kinder seien genetisch dumm, sagen die Chinesen, das bewirkte der Mangel an Sauerstoff. Dazu kommt, daß man in ganz China die gleichen Lehrbücher benutzt; die
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