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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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war, wurde es Frühling. Überall herrschte Terror.
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    Gerüchte von Massenverhaftungen und Hinrichtungen nahm man im Ausland betrübt zur Kenntnis. Die Chinesen erschossen fünfzig Zivilisten für einen einzigen Soldaten? Höchst bedauerlich, wahrhaft, und gegen die Genfer Konvention. Aber warum mußte eine Minderheit, die sich unter Chinas aufgeklärter Schirmherrschaft so prächtig entwickelte, derart fanatisch randalieren?
    Chodonla hatte nicht gewußt, daß Norbu Beziehungen zu den Rebellen unterhielt. Er wollte mich nicht in Gefahr bringen, erzählte sie mir, Jahre später, noch immer verwirrt. Ich für meinen Teil neige dazu zu glauben, daß er ihr nicht vollständig traute. Wie dem auch sei, er wurde denunziert. Schäbig, aber nur natürlich. Bei den Chinesen ist es gar nicht möglich, in Grausamkeiten zu übertreiben; die Methoden haben sich bestens bewährt, seit Jahrtausenden. Die Soldaten kamen vor Morgengrauen und brachen die Tür auf. Norbu gehörte zu der Sorte Menschen, die etwas bei sich behalten können, wenn sie verhört werden. Sie folterten ihn acht Tage lang, immer im Beisein von Chodonla. Die Folterkammern sind klein und schmutzig, leer bis auf einen Tisch und einen Stuhl. Eine kreideweiße Lampe hängt an der Decke. Der Gefangene muß sich seiner Kleider entledigen. Man erwartet von ihm, daß er die Kleider nacheinander zusammenfaltet und auf einen Stuhl legt. Das gehört dazu, das ist ein Teil ihrer Methoden, wußtest du das? Ein nackter Mensch unter Fremden ist ein hilfloser Mensch. Er steht da und schlägt die Augen nieder, er fröstelt und zittert, weil es kalt ist, weil er sich schämt. Das alles gehört dazu. Ein Mensch zieht sich aus, wenn er zum Arzt geht; vertrauensvoll, weil er weiß, daß der Arzt da ist, um seine Gesundheit wiederherzustellen. Hier weiß er, die Soldaten sind dazu da, um seine Gesundheit zu zerstören. Sein starker, unversehrter Körper wird in ein blutiges Bündel verwandelt, bis die Welt nur noch aus dem Dunst des Schweißes, dem Geruch des Erbrochenen, dem Gestank der sich entleerenden Därme besteht; bis der Mund des Gefolterten nur noch ein Loch ist, wild schreiend, blutend und zahnlos.
    Um es kurz zu machen: Sie verlangten von Chodonla, daß sie Flaschen zertrümmerte, die Glasscherben eigenhändig auf dem Boden verstreute. Sie ließen Norbu zuerst auf den Glasscherben knien, dann schleiften sie ihn über das Glas. Stück um Stück rissen die Scherben, die nicht glatt einzudringen vermochten, das Fleisch heraus, bis sein Körper nur noch eine einzige Wunde war, breiig und matschig, eine Mischung aus Blut, Fleisch und Sickerflüssigkeit.
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    Seine Henker waren von einer absoluten Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Schmerz, sie machten das schon seit Jahren. Sie lächelten manchmal oder rauchten Zigaretten. Norbu versuchte, seine Todesqualen zu verkürzen, indem er Scherben verschluckte, die ihm den Mund und die Halsschlagader aufritzten. Er verblutete innerlich, schneller als es seinen Henkern recht war. Ein wenig Eile schien hier erforderlich: man stach ihm die Augen aus und schnitt ihm die Nase ab. Die Ohren und die Zunge nicht; es waren noch einige Namen fällig. Norbu rückte nicht damit heraus; ich nehme an, es wäre ihm unmöglich gewesen, sie zu artikulieren, selbst wenn er es gewollt hätte. Genug, er starb. Selbstmord im Gefängnis, lautete der offizielle Bericht.«
    Atan verfiel in Schweigen. Ich zitterte innerlich, und mir brach der kalte Schweiß aus.
    »Und Chodonla?«
    »Man war zu der Überzeugung gekommen, daß sie in der Tat nichts wußte. Sie blieb nur ein halbes Jahr in Haft, für chinesische Begriffe eine sehr kurze Zeit.«
    »Wurde sie gefoltert?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Nicht auf diese Weise. Sie war eine schöne, junge Frau. Wie oft sie vergewaltigt wurde, konnte sie nicht sagen. Sie wußte nicht einmal, daß sechs Monate vergangen waren. In der Hölle existierte die Zeit nicht. Über das, was man sonst mit ihr gemacht hatte, schwieg sie sich aus. Sie erzählte mir lediglich, daß sie mit blutigem Büstenhalter aus dem Gefängnis kam und sich draußen auf der Straße schämte. Man hatte ihr beide Brustwarzen abgeschnitten. Sie dachte daran, sich umzubringen, aber sie tat es nicht.«
    Meine Haut klebte. Ich dachte, ich weiß nicht, ob ich je wieder schlafen kann. Atan sprach weiter.
    »Vielleicht ließ man sie frei, weil sie krank war. Eine Lungenentzündung war in Tuberkulose ausgeartet, und man hielt es für

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