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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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besser, wenn sie außerhalb des Gefängnisses starb. Sie war schwanger. Der Vater des Kindes konnte jeder sein, der sie im Gefängnis gehabt hatte. Ihre Schwangerschaft war unbemerkt geblieben, sonst hätte man sie zur Abtreibung gezwungen. Sie brachte ihr Kind zur Welt mit dem festen Vorsatz, es zur Adoption freizugeben. Doch als Chodonla ihre Tochter in den Armen hielt, änderte sie ihren Entschluß. Sie gab ihr den Namen Kunsang.
    Verstümmelt wie sie war, konnte Chodonla das Neugeborene nicht 176
    nähren; schließlich fand sie eine zuverlässige Amme. Wenn in Chodonla das Bedürfnis nach einem Fleckchen Klarheit und Reinheit blieb, stellte es in ihren Augen Kunsang dar. Noch bevor das Kind sprechen konnte, wurde es für Chodonla der einzige Mensch, der ihr noch etwas bedeutete. Und hiermit begann der dritte Abschnitt in ihrem Leben.«
    Atans Gesicht war reglos, seine Lippen schmal, doch er sprach mit der ganzen Sanftheit seiner Muttersprache.
    »Es ist nicht leicht, Chodonla Beweggründen auf die Spur zu kommen. Auch ich brauchte Zeit. Zumal sie selbst nicht klar sah. Im Gefängnis hatte man sie nackt gefesselt, mit Alkohol vollgepumpt und Drogen in die Venen gespritzt. Man hatte ihr Dinge beigebracht, die ihr trotz allen bewußten Abscheus, gefielen. Wir Menschen sind nun einmal so. Aus den Tiefen unserer Blutes dringen seltsame unsichtbare Einflüsse hinauf, die an unserem Willen nagen und uns langsam aber sicher zerstören. Dieses Unbekannte ist wie ein Fieber; ein betäubender und zugleich aufreizender Wahn. Ein Teil von Chodonla war verdorben; der andere, der bewußte Teil ihrer selbst, haßte sich deswegen. Für sie gab es nur noch die Verbindung, die ihren lebenden Körper mit dem toten Körper ihres Mannes zusammenhielt. Sie hatte Rache geschworen, aber es dauerte lange, bis sie eine Möglichkeit dazu sah. Inzwischen sammelte sie ihre Kräfte.«
    Ich nickte matt. Ja, dergleichen konnte ich verstehen. Atan fuhr fort:
    »Jeder konnte über ihren Körper verfügen, aber keiner berührte ihr Herz. Ihr Herz war tot. Vernehmungsoffiziere, die sie im Gefängnis benutzt hatten, kamen jetzt zu ihr und gaben ihr Geld. Sie mochten Lhasa nicht und hatten Heimweh. Sie fühlten sich zu Chodonla hingezogen, weil sie in China erzogen worden war und Chinesisch sprach. So konnte sie eine Zeitlang überleben. Einer dieser Männer vermittelte ihr eine Stelle im Amy. Ein Bordell der höheren Klasse, das von chinesischen Beamten und Offizieren besucht wurde. Die Mädchen tanzten und tranken mit den Männern, bevor sie sich mit ihnen in ein Zimmer zurückzogen. Die Offiziere lehrten Chodonla tanzen; ihre Unbeholfenheit machte ihnen Spaß. Sie trank mit ihnen.
    Der Whisky, der ihr früher die Eingeweide verbrannt hatte, begann ihr zu schmecken. Bald hatte sie ihren festen Kundenkreis. Und im Bett redeten die Männer, unweigerlich. Das ist auf der ganzen Welt so. Im Bett rede ich sogar ich. Wir Idioten schütten den Frauen unser 177
    Herz aus, freuen uns über jede Frage, sehen sie als Zeichen von persönlichem Interesse an. Chodonla plauderte heiter auf dem Kopfkissen, bekam vieles heraus und merkte sich die Einzelheiten.
    Und entdeckte nach und nach, wie sie ihr Verlangen nach Rache befriedigen konnte. Aber zuerst mußte sie von ihren eigenen Hemmungen loskommen. Sie litt Qualen unter ihrem Laster, doch das, was sie als Verderbtheit empfand, war in Wirklichkeit nur zäher, verbissener Selbsterhaltungswille. Chodonla aber schämt sich, konnte sich nicht mit ihrer eigenen Natur versöhnen. Sie hatte auch Angst, sich zu irren. Ihre Kontakte mit den Nationalisten erfolgen zögernd. Im Tempel, wo sie für die Seele ihres Mannes betete, traf sie Mönche. Diese waren vielleicht nicht ganz sicher, ob sie sich auf Chodonla verlassen konnten. Sie müssen lange darüber beraten haben. Gewisse Informationen, die Chodonla weitergab, hätten sie auch selbst erfahren – aber erst viel später. Und gerade darauf kam es an: daß man die Dinge rechtzeitig erfuhr. Chodonla merkte, daß sie etwas bewirken konnte. Aber das wurde nicht zur Befreiung, sondern zerstörte das Gleichgewicht, das sie in mehreren Jahren mühselig hergestellt hatte. Sie war allein mit der neuen Lebensweise, die für sie in kurzer Zeit eine übergroße Wichtigkeit angenommen hatte. In ihrem Fall paßten Pflicht und Trieb gut zusammen, aber der Wille, sich noch tiefer zu verstricken, brachte sie in zusätzliche Not.
    Die Angst war nach wie vor da. Sie war im Gefängnis

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