Die Tibeterin
gewesen, also immer unter Beobachtung, immer verdächtig. Sogar ihr Schweigen konnte Mißtrauen erregen. Chodonla lebte in ständiger Furcht, wieder verhaftet zu werden. Aber sie hatte einen Glauben, etwas, das ihr teuer war. Sie ging das Risiko ein.«
Ich rieb mir die Stirn. Die Zusammenhänge wurden klar. Ich begriff Chodonla Angst, ihre Scham, die Not ihres Herzens. Sie war die Witwe eines notorischen Aktivisten. Man wußte, daß sie im
»Amy« mit chinesischen Offizieren zu tun hatte. Das Gong An Ju –
das Amt für Öffentliche Sicherheit – hatte sie unter Bewachung gestellt. Chodonla konnte nirgendwohin gehen. Sie bekam keinen Paß.
Atan schien in meinen Gedanken zu lesen.
»Einmal wurde ihr gesagt, sie könne ihre Familie im Ausland besuchen, aber ohne das Kind. Sie wollten die Kleine zurückbehalten. Als Druckmittel.«
Ich schüttelte stumm den Kopf. Atan sprach weiter.
»Vor zwei Jahren lernte sie im Amy Sun Li kennen. Er ist 178
Ingenieur, Sachverständiger für Bauprogramme, die Millionen kosteten. Der Mann war gut zu ihr. Auch zeigte er dem Mutterland gegenüber eine kritische Haltung. Chodonla wurde seine Konkubine, was offiziell nicht erlaubt ist, aber stillschweigend geduldet wird. Sie wohnt jetzt in einem neuen Haus, mit fließendem Wasser.
Chinesische Kader in Tibet verfügen über ein Einkommen, das achtmal so hoch ist wie ein vergleichbarer Arbeitslohn im Mutterland, und beziehen moderne Wohnungen. Sun Li wünscht natürlich, daß Chodonla zu Haus bleibt. Chodonla will, daß ihre Tochter satt wird und warme Kleider hat und leistet sich die Komödie der Reue. Sie spielt ein gefährliches Spiel. Das erschüttert ihre Überzeugung nicht, ganz im Gegenteil. Wir lieben unseren Aufstand, weil er unser Lebenszweck ist. Manche werden sagen, daß es zwecklose Kämpfe gibt, und daß gewisse Spiele von vornherein verloren sind. Damit haben wir uns abgefunden. Die Geschichte lehrt, daß das Recht niemals auf der Seite des Unterdrückers ist.«
Antans Worte werden von einem eindringlichen Blick begleitet.
Langsam nahm ich den Blick und Worte auf. In mir fühlte ich steigende Erregung.
»Und was ist mit dir, Atan? Gehörst du auch dazu?«
»Ich bin ein einsamer Wolf. Aber manchmal jage ich mit dem Rudel.«
Irgendwie hatte ich dergleichen vermutet. Ich deutete mit einem Nicken an, daß ich verstanden hatte. Atan fuhr fort:
»Chodonla braucht das Gefühl, daß sie für etwas kämpft, für ihr Land und für alle die Menschen, denen die Han-Chinesen das Leben unmöglich machen. Und viele haben ihr zu verdanken, daß sie nicht mit einer Kugel im Nacken in Massengräbern verfaulen… «
Er schwieg. Ich spreizte hilflos die Hände.
»Du hast gesagt, sie ist krank…«
Ein Schatten glit über sein Gesicht.
»Die Belastung geht über ihre Kräfte. Nachts schläft sie nur wenige Stunden. Sie ist hochgradig schwindsüchtig. Sie behauptet, ganz in Ordnung zu sein, aber ich weiß, daß ihr nur noch wenig Zeit bleibt.«
Nur wenig Zeit… Genau das hatte Tashi gesagt. Ich vermeinte plötzlich, seine Stimme zu hören. Meine Kehle wurde trocken. Ich würgte die Worte hervor.
»Was verstehst du unter wenig Zeit, Atan?«
»Sie hat noch ungefähr ein halbes Jahr zu leben. Vielleicht.« Er mochte erwarten, daß ich frage, woher weißt du das? Doch ich sagte 179
nichts. Es war ein Mann, der solche Dinge erkannte. Chodonla Leben schwand dahin; ein halbes Jahr noch, dachte ich schmerzerfüllt, Vater hat es nicht umsonst eilig gehabt. Ich mußte mich zu einer Entscheidung aufraffen. Es war schon spät am Morgen. Die Sonne stieg langsam über den Bergen auf, ließ ihr schweres Licht herabströmen; die Steinhäuser hoben sich grau vom türkisblauen Himmel ab.
180
20. Kapitel
I n der Krankenstation war ständig etwas los. Kaum hatte ich meinen Kittel zugeknöpft, als zwei Arbeiter einen bleichen, taumelnden Verletzten brachten. Der Mann war von einem Gerüst gefallen, ein Nagel steckte in seinem Kopf. Ich gab dem Mann eine Injektion, zog den Nagel heraus. Die Routine half, wo mein Bewußtsein streikte. Ich stillte das Blut, desinfizierte und untersuchte die Wunde. Das Röntgenbild ergab, daß der Nagel die Schädeldecke zwar beschädigt, wichtige Gehirnfunktionen jedoch nicht beeinträchtigt hatte. Alle Reflexe waren gut. Ich ließ Natara die Wunde verbinden, verordnete dem Mann Bettruhe. Ich hörte die Stimmen gedämpft, sah alle Gesichter wie hinter einem Schleier. Die Reaktion setzte ein; ich dachte an
Weitere Kostenlose Bücher