Die Tibeterin
Chodonla, an den Schatten in ihr.
Ihr Tod war noch nicht ganz wahr. Aber ich würde mich daran gewöhnen müssen, schon bald. Und was nun, Atan? Was soll ich tun? Ich weiß es beim besten Willen nicht mehr. Manchmal frage ich mich, ob ich dich auch erträumt habe. Aber du bist aus Fleisch und Blut und real. Und über die Sache mit meinem Vater will ich mir nicht allzuviel Gedanken machen. Nein.
Im Lager gab es zwei alte Khampas, an denen man die Kinder möglichst schnell vorüberzog. Hagere Männer mit lauernden Bewegungen; ihre Glieder waren mager und knotig. Sie hatten die Haltung von Männern, die immer bereit sind, beim Zischen einer Gewehrkugel nach den Waffen zu greifen oder in Deckung zu springen. Ihr Ausdruck war hochmütig und verbissen. Für Land-oder Bauarbeit hatten sie nichts übrig, dafür waren sie gute Mechaniker. Der Jeep, mit dem Atan den letzten Teil der Strecke zurückgelegt hatte, stand noch vor der Krankenstation. Ich sah die beiden um den Wagen streichen, als Atan die Haube hob und sich den Motor besah. Einer stieß mit dem Fuß an die Reifen, der andere kletterte flink auf den Vordersitz. Er zeigte auf die Nadel des Treibstoffmessers, rief heiser ein paar Worte. Atan hob den Kopf und grinste. Als ich am Abend die Krankenstation verließ, saßen alle drei in der Kantine. Sie tranken Bier und sprachen mit leiser Stimme, wobei sie einander die Hände auf die Arme legten und die Finger in einer Art Zeichensprache bewegten. Grußlos ging ich an ihnen vorbei; auch Atan streifte mich mit keinem Blick. Ich wußte, daß er bald kommen würde.
181
Im nahen Kloster pochte die Trommel. Über dem Fenster war der Himmel nun beinahe rot; die Berge flammten wie an jedem Abend um diese Stunde, als ich ein Kratzen an der Tür vernahm. Draußen hatte ich keine Schritte gehört, nicht das geringste Geräusch. Ich strich mein Haar hinter die Ohren und öffnete. Atan trat lautlos ein; es war, als ob die Dämmerung Gestalt annahm. Atans Körper war mir so nahe, daß seine Wärme selbst durch den dichten Wolfspelz zu mir drang. Ich hatte das Gefühl, daß ein dunkler Wind aufwühlende Schauder durch mich jagte. Die magische Verbundenheit des Begehrens bedarf keine Sprache; sie vibriert in den Ohren, im Blut; sie erfaßt den Körper wie ein niedergehaltenes Feuer, das plötzlich lodert. Atan empfand, was ich fühlte, im gleichen Atemzug.
»Es war ein langer Tag«, brach ich das Schweigen. »Vielleicht ist es in unserem Fall notwendig?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er kehlig. »Und auf die Zeit kommt es wohl nicht an.«
Ich wandte mich brüsk ab:
»Wie wäre es mit etwas zu essen?«
Ich hatte Tsampa – geröstete Gerste – zu Kügelchen geknetet, mit ein paar Brocken Käse, Pilzen und eingelegtem Rettich vermischt.
Dazu hatte ich frischen Dahi – Joghurt aus Büffelmilch – gekauft.
Alle Tibeter mögen Joghurt. Atan nahm die Speisen mit einem dankbaren Nicken. Er aß und trank schweigend und ohne Hast; erst nach einer Weile fragte er beiläufig nach Sonam.
»Die Antibiotika wirken«, sagte ich. »Heute morgen fiel das Fieber, aber abends kommt es wieder, das wird noch einige Zeit so gehen. Es könnte auch ein Virus sein, wir müssen das beobachten.«
»Kann ich sie sehen? Ich will mich von ihr verabschieden.«
Ich holte tief Luft.
»Ich werde es ihr sagen. Wann gehst du?«
Er antwortete mit einer Gegenfrage.
»Wann kommt deine Cousine zurück?«
»In zwei Tagen.«
»Dann werde ich nicht mehr da sein.«
Ich stand auf, holte die Kanne mit Tee und füllte Atans Schale. Er nahm die Schale in die eine Hand und ließ, wie es in Tibet Brauch war, die Finger der anderen Hand leicht auf dem Rand der Schale ruhen.
»Hast du keinen Durst?« fragte er mich.
»Ich habe schon getrunken.«
182
Er schlürfte den Tee; ich betrachtete ihn, auf beide Ellbogen gestützt.
»Kennst du die Alten, mit denen du in der Kantine warst?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich komme aus der Heimat. Sie stellten Fragen.«
Ich blickte ihn neugierig an und bewegte dazu die Finger, wie ich es bei den Khampas gesehen hatte. Er blinzelte mir über sie Schale hinweg zu.
»In chinesischen Zellen sind Worte gefährlich.«
Ich war erschöpft von der seelischen Belastung, von dem Mangel an Schlaf. Ich begriff langsam.
»Willst du damit sagen, daß auch du im Gefängnis warst?«
Ein merkwürdiges Flackern trat in seine Augen, während seine Stimme völlig gleichmütig klang.
»Sechsmal, wenn ich gut nachzähle. Zweimal im
Weitere Kostenlose Bücher