Die Tibeterin
Gesetz, daß jede Revolution sich der Rachsüchtigen bedient, der Perversen und der pathologisch Hassenden.
Atan nahm einen großen Schluck.
»Nicht manchmal. Oft. Ich hätte die Chinesen nur scharf genug verhöhnen müssen, sie hätten dann mit mir ein schnelles Ende gemacht. Aber dann dachte ich an meine Mutter; an das, was sie erduldet hatte, an ihre Schönheit, an ihren Mut. In solchen Momenten führt man Selbstgespräche. Was ist mit dir, Atan? fragte ich mich. Hat ein Khampa keine Verpflichtungen? Zeigt ein Mann aus großer Jurte dem Feind die Fersen seiner Ehre? Hat der Sohn einer Kriegerin seinen Stolz vergessen? Fällt der Regen nach oben, wächst das Gras nach unten? Ich bin ein Wolf in dieser Hundemeute hier. Und Hunde räumen den Wölfen das Feld.«
Er sah mich an; in seinen Augen glühte das Wissen um eine ältere, von großen Kräften erfüllten Welt. Ich spürte ein Zittern im Nacken und sagte:
»Erzähl mir von deiner Mutter.«
»Meine Mutter war die Herrin der Pferde.« Atans Blick löste sich von mir, wanderte weit fort wie seine schweifenden Gedanken. »Ihr Name war Shelo. Die Götter schenken den Menschen vielfältige Gaben; dem einen geben sie das Sehertum, dem anderen das Wissen, diesem die Kunst des Erzählens und jenem wieder die Körperkraft.
Shelo hatten sie die Gabe des Gesangs verliehen. Noch heute –
dreißig Jahre nach ihrem Tod – singen Frauen und Männer ihre Lieder, auf den Marktplätzen wie in den Klöstern, am häuslichen Herd wie um die Feuer auf dem Feld. Ihre Melodien bewegten Tänzer und Tänzerinnen, erfreuten die Reiter beim Fest der Sonnenwende. Shelo rief bei Dürre die Regenwolken an; sie sang im Dunst der Wacholderzweige, wenn die Ernte gutes Wetter forderte.
Und zuletzt sang sie für die Sterbenden. Ihre Stimme, verwoben mit dem Feuer, trug die weinenden Seelen auf Adlerschwingen empor zu 185
den Sternen.«
Atan verstummte ganz plötzlich, lehnte sich zurück. Tiefe Verwunderung erfüllte mich. Etwas an diesem Mann war weit und unerreichbar wie der Himmel. Er trug den Zauber seiner Heimat in sich, das weite Land der Pferde, der Salzseen, der Geisterberge, das ein paar Atemzüge lang in seinen Worten gegenwärtig gewesen war und sich mit einem Mal verschlossen hatte. Und wieder stellte ich mir die Fragen: Wer bist du, Atan? Ein Söldner? Ein Vagabund? Ein Weiser oder ein Kind, das sein Leben lang eine Tote beweint?
Ich streckte die Arme aus, legte beide Hände an seine Wangen.
»Deine Mutter… wie starb sie?«
Ich spürte, wie er das Gesicht gegen meine Handflächen preßte.
»Sie starb wie eine Heldin. Von ihr, siehst du, wird noch heute gesprochen. Es macht mich froh, wenn meine Mutter von Unbekannten gelobt wird. Einen Augenblick lang ist es, als ob sie wieder leben würde. In Wirklichkeit ist sie fort und dahin. Ich aber höre ihre Stimme, wann und so oft ich will. Ich höre sie in dem Rauschen funkelnder Gebirgsbäche, in dem Flüstern des Windes.
Was ist Ruhm? Der Fortklang eines Namens. Und wozu, denke ich dann, wozu eigentlich ein so langes Leben, wenn ein einziger Tag Unsterblichkeit beschert?«
Er hob das Gesicht; ich sah den leuchtenden Spalt seiner Augen.
Ich wollte die Hände fortziehen, doch er faßte nach meinen Gelenken, preßte meine Handflächen an sein Gesicht. Seine Haut war mit einem leichten Schweißfilm überzogen. Mein Herz stockte, aber dann klopfte es so heftig, daß es mich beinahe erstickte. Nach einer Weile flüsterte ich rauh:
»Wer hat deine Mutter umgebracht, Atan? Die Chinesen?«
Er zuckte leicht zusammen. Seine Lippen bewegten sich in meinen Händen.
»Nein, die Chinesen nicht.«
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21. Kapitel
A ls er die Arme um mich schloß, versank die Welt; es war wie das Schwimmen auf einem Strom; wir überließen uns den Wellen. Es war jetzt Nacht; nach allen Seiten hin erstreckte sich die dunkle Welt; nur die Buddhastatue und die silbernen Schalen darunter warfen das Licht zurück wie kleine Spiegel. Atan hielt mich eng umklammert, gegen seine Brust gepreßt. Sein Haar war duftend und weich wie eine Decke, ich nahm es in den Mund, ich kaute auf den Strähnen und hörte sie in meinem Mund knirschen. Er zog mit beiden Händen meinen Kopf zu sich, suchte meine Lippen. Während sein Mund sich fest um den meinen schloß, drückten meine Finger seinen Nacken und glitten zu seinen Schultern, die sie abwechselnd faßten und losließen. Erregungsschauer durchliefen seinen harten, geschmeidigen Körper. Wir sprachen kein Wort.
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