Die Tibeterin
Militärgefängnis in den USA. Das war lustig. Ich las jede Menge Bücher, spielte Baskettball und hatte einen Job im Fotoatelier. Ferien im Paradies sozusagen, von denen ich in chinesischer Einzelhaft nur träumen konnte.«
Mir wurde plötzlich kalt.
»Schlimm?« flüsterte ich heiser.
Sein Ausdruck verfinsterte sich.
»Ich komme selten auf diese Dinge zu sprechen, das schiebt dem Gedächtnis einen Riegel vor. Die Schatten der Vergangenheit sollte man ruhen lassen. Ins Feuer mit den Erinnerungen! Das wäre wohl das Beste.«
Ich riß meinen Blick mit Mühe von ihm los.
»Es tut mir leid. Ich werde dich nicht mehr fragen.«
Er spielte mit seiner Schale, dreht sie in den gelenkigen Händen.
»Es kommt vor, daß man sich erinnert. Und dann ist es besser, wenn man reden kann. Wer draußen ist, vergißt nie ganz, wie es war.
Etwas Mitgefühl wäre wohl angebracht. Für die anderen, meine ich, die es nicht schafften. Was sehe ich in meinen Erinnerungen?
Lumpen und Knochen und Blut. War es in Changtang, wo wir Steine ausgruben? In der Frühe sank die Temperatur tief unter Null, so daß die Fleischfetzen von unseren Händen an den Schaufeln klebten.
War es dort, wo wir Schweinefutter stahlen? Wo ich Bäume ohne einen Fetzen Rinde an den Stämmen sah? Baumrinde war ein Leckerbissen. War es in Dartsedo, wo sie ehrwürdige alte Mönche aneinanderfesselten wie Tiere? Ja, es mußte in Dartsedo gewesen 183
sein; sie hatten ein ausgeplündertes Kloster als Gefängnis umfunktioniert. Wir sollten die Mitwisser und die Mithelfer der Revolte in Osttibet preisgeben, sonst würden sie die Männer hinrichten. Die Mönche schrien, wir sollten nichts verraten, sie seien alt und ihr Leben sei nutzlos. Die Chinesen drehten ihnen mit Stacheldraht Schlingen um den Hals; sie wollten verhindern, daß die Mönche ein letztes Wort des Widerstandes herausschrien, bevor sie einen Genickschuß erhielten. Ich dachte, es wäre leichter, auf diese Art zu sterben als durch Messerstiche in die Hoden, womit ich mich gewiß nicht täuschte. Die Chinesen amüsierten sich bei solchen Spielen. War es im Drapchi-Gefängnis, wo ich zwanzig Tage in einer Hochsicherheitszelle knieend gefesselt verharren mußte, die Hände erhoben und mit Eisen beschwert? Ja, es muß in Drapchi gewesen sein. Ich bekam nur jeden fünften Tag zu essen, eine kleine Schale mit Tsampa und kaltes Wasser. Täglich wurde ich einem Verhör unterzogen. Sie gingen dabei sehr gewissenhaft vor und hatten ihren Spaß daran. Sie brachen mir die Rippen, überbrühten mich mit kochendem Wasser und träufelten Säure in die Verbrennungen. Sie sagten, ich sei ein zäher Brocken. Aber sie hätten Zeit, sie würden mich schon kleinkriegen. Sie meinten es wörtlich. In ein paar Tagen, sagten sie, wirst du schreien mit all den verbliebenen Kräften deines Leibes, der Stück um Stück verkürzt wird. Als ich die Gelegenheit fand zu entkommen, hatten sie mich vorher fast bewußtlos geschlagen. Sie hatten meine Hände mit Draht gefesselt, das übliche Verfahren. Aber ich hatte die Gelenke auf besondere Art gedreht, so daß die Drähte locker saßen. Diese Tricks kann man lernen. Der Wächter sah mich in meinem Blut liegen, ging und holte sich ein Bier. Als er zurück kam, kauerte ich hinter der Tür. Ich packte ihn, steckte ihn kopfüber in den Latrinenspalt am Boden. Nach einer Weile wurden seine Bewegungen schwächer; ich nahm seinen Schlüsselbund und sein Gewehr. Es war spätabends, die Soldaten spielten Karten. Ich wollte mich nicht alleine davonmachen, aber was ich in den anderen Zellen vorfand… die Schilderung will ich dir und mir ersparen. Einige flehten um ein schnelles Ende. Und da es wirklich das Beste für sie war, stieß ich mit dem Bajonett zu und erlöste sie. Später suchte ich einen Lama auf und sagte ihm, daß es gegen mein Herz gewesen war. Er hieß mich den Verstorbenen opfern, und sprach mich frei von meiner Schuld.«
Atan stockte, fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
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»Man sagt, wir haben die Wahl. Aber das Schicksal ist stärker. Wir tun, was uns zu tun übrig bleibt.«
Mein Kopf war leer, so leer. Ich hatte genug gehört. Wie in dem Leser von Krankheitsgeschichten leicht das Gefühl aufkommt, selbst die beschriebenen Krankheiten zu haben, wurde mir bei alldem fast übel.
»Kam dir nicht manchmal der Wunsch zu sterben?«
Ich würgte die Worte fast heraus. Im täglichen Leben ist es leicht, die Schlechtigkeit der Menschen zu vergessen. Aber es scheint ein
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