Die Tiefe einer Seele
Lieblingsgericht zubereitet. Rindsrouladen! Alleine das war die Reise wert gewesen.
James musste erneut abbremsen. Der Verkehr staute sich immer weiter, und jetzt fing es auch noch an zu regnen. Er hatte gehofft, noch vor dem Einbruch der Dunkelheit in Berlin zu sein, aber so, wie es momentan ausschaute, war das kaum zu schaffen. Er drehte ein wenig am Radio herum und nickte zufrieden, als die stimmgewaltige Amy Winehouse aus den Lautsprechern tönte. Ihre Musik mochte er sehr, schade drum, dass das Mädel sich selbst ins Aus geschossen hatte. Ein Leben voller Erfolg und mit ungeahnten Möglichkeiten vor sich und dann das. Dem jungen Mann fehlte jegliches Verständnis für ein derartiges Scheitern auf ganzer Linie. Seiner Meinung nach war jeder seines eigenen Glückes Schmied, und selbst der schlimmste Schicksalsschlag war keine Entschuldigung, sich gehen zu lassen. Wenn man das dann auch noch grundlos machte, war es umso ärger. Aber die Musik war trotzdem genial. Nur blieb ihm nicht allzu viel Zeit, sie zu genießen, denn jetzt meldete sich das Navigationssystem lautstark zu Wort.
Verdammt, ein Stau! So ein Mist!
Stirnrunzelnd vernahm James die Stimme der aufdringlichen Navi-Dame, die ihm nachdrücklich empfahl, die A24 an der Ausfahrt Hornbek zu verlassen. Shit! Er hatte sich darauf gefreut, einen schönen Abend in Berlin Mitte zu verbringen, stattdessen würde er hier ewig in der Pampa rumkurven müssen. Egal, es nützte ja nichts. Der Regen wurde noch stärker, als der junge Mann den Blinker des Audis setzte und dem Vorschlag der näselnden Wegbeschreiberin folgte. Selbige lotste ihn nun über endlose Landstraßen, durch gottverlassene Käffer und menschenleere Einöden, so nahm es das fachkundige Auge des Reisejournalisten James Prescott jedenfalls wahr, aber vielleicht lag es auch nur am Regen. Wieder näherte er sich einer kleinen Ortschaft. »Siebeneichen« las er auf einem Hinweisschild. Hübscher Name! Er drosselte das Tempo seines Autos auf ordnungsgemäße 50 Stundenkilometer und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Gleich 19 Uhr. Vielleicht sollte er eine Pause machen, und die Brötchen verdrücken, die er sich aus Hamburg mitgenommen hatte. Synchron zu seinen Gedanken, meldete sich just in diesem Moment sein Magen, der eindringlich knurrend eine sofortige Nahrungsaufnahme verlangte. Bei der nächsten Gelegenheit bog James ab, um der Wagenkolonne vor und hinter ihm, die genau wie er auf der Umleitung unterwegs waren, zu entkommen. Vielleicht würde er ja einen Parkplatz finden, sonst würde auch der Straßenrand genügen. Gemächlich näherte er sich einer Fußgängerampel, an der ein Kind mit seinem Fahrrad wartete. Er hatte es schon fast passiert, da geschah das Unfassbare. Das Kind fuhr los. Einfach so! James fluchte laut auf und stieg voll in die Bremsen, aber es war zu spät. Es gab ein schreckliches Geräusch, als der kleine Körper mitsamt dem Fahrrad auf die Motorhaube knallte und von dort abprallte. Dann stand der Wagen, und es war still. Totenstill! Sekundenlang saß James nur da. Unfähig sich zu bewegen, gelähmt am ganzen Körper. Totale Blockade des Denkapparates. Oh mein Gott, er hatte jemanden angefahren. Endlich regte er sich, blickte entsetzt in den Rückspiegel, konnte aber weder das Fahrrad noch das Kind entdecken. Panisch löste er den Sicherheitsgurt und sprang aus dem Audi. Nachdem er das Umfeld der Unfallstelle in Bruchteilen von Sekunden abgescannt hatte, sah er sie. Das Mädchen kauerte in wenigen Metern Entfernung auf dem Grünstreifen an der Straße und hielt sich das Knie. Es jammerte. Nein, jammern konnte man es eigentlich nicht nennen, es schimpfte und fluchte lautstark, wie es ein alter Seemann kaum besser fertiggebracht hätte. James klappte vor Überraschung die Kinnlade runter. Vor ihm saß nämlich kein Kind, kein kleines Mädchen, sondern eine junge Frau. Zierlich, ja, aber ohne Zweifel den Kinderschuhen längst entwachsen. Die Kapuze ihres Anoraks war ihr vom Kopf gerutscht und gab den Blick frei auf ihre roten Haare, eine wilde Mähne, die ihr bleiches und schmales Gesicht umrahmte und ihr etwas Verwegenes, etwas Unberechenbares, gab.
»So ein verdammter Scheißdreck!«, hörte er die junge Frau weiter fluchen und kniete sich nun vor ihr hin.
»Ist Ihnen etwas passiert, Miss?«, fragte er in tadellosem Deutsch und legte fürsorglich eine Hand auf ihre Schulter.
Die Rothaarige funkelte ihn aus unsagbar grünen Augen wütend an und schüttelte seine Hand ab.
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