Die Tiefe einer Seele
waren. Und er sah die Blumen. Weiße Lilien. Er konnte sich denken, von wem sie stammten, denn es waren die Lieblingsblumen seiner Schwester. Betrübt dachte er zurück an damals, als das Unglück über ihn hereingebrochen war. Schonungslos und unerbittlich. Machtlos war er gewesen, und machtlos war er auch jetzt, als sich sein Hals zuschnürte und heiße Tränen in seine Augen stiegen. Vergeblich kämpfte er dagegen an. Seine Beine gaben einfach so nach, und er knickte zusammen, wie ein schlecht gebautes Kartenhaus. Fiel auf die Knie und ließ ihn endlich zu. Diesen Schmerz, die unsagbare Trauer, die ihn urplötzlich zu zerreißen drohte. Er fühlte sich wie in den Fängen eines Tornados, seine Gedanken gerieten völlig ins Taumeln, er war dabei, ganz und gar die Kontrolle zu verlieren. Tausend Dinge gingen ihm durch den Kopf. Er sah die Bilder, hörte Wortfetzen, Schreie, jämmerliche Schreie, die ihm jetzt wie damals durch Mark und Bein gingen, ihn zerstören wollten. Langsam und auf grausame Art und Weise. Er war der Erinnerung mit Haut und Haaren ausgeliefert, stand ihr nackt und schutzlos gegenüber, ohne den Hauch einer Chance, ihr zu entkommen. Vermutlich hätte das sein Verderben bedeutet, wäre da nicht diese Hand gewesen. Ihre Hand. Die seine immer noch beruhigend umfasste. Die ihm die Wärme und Liebe spendete, die er jetzt brauchte. Die Hand, die dieser Frau gehörte. Jener Frau, die wie ein Blitz in sein Leben eingeschlagen hatte. Mit der er in den vergangenen Monaten so einiges durchgemacht hatte, die ihn seines Verstandes beraubt und gleichzeitig dazu gebracht hatte, endlich wieder klar zu denken. Ehrlich zu sich zu sein. Die Frau, die nun neben ihm kniete und mit ihm weinte, weil sie es musste, und weil sie es wollte. Minutenlang verharrten die beiden so. Niemals hätte er gedacht, dass ein Gefühlsausbruch so befreiend sein könnte. Aber es war so. Als wenn sich ein eiserner Ring, der sein Herz für lange Zeit umschlossen hatte, gemächlich öffnen würde, und er fühlte, dass der Schmerz entwich und ihm einen lang vermissten Frieden bescherte. Genauso, wie sie es prophezeit hatte. Aufgewühlt und mit pochendem Herzen sah er sie an, als seine Tränen versiegten, und sein Atem sich egalisierte. Langsam erhob er sich, wischte mit dem Handrücken über sein Gesicht und zog dann auch sie wieder auf die Beine.
»Mmm, vielleicht mögen wir ihn ja doch, den November«, meinte er leise und zog ein weißes Stofftaschentuch aus seiner Jacke, das er ihr reichte.
Sie ergriff es und schnäuzte lautstark hinein, was ihn schmunzeln ließ.
»Ja, vielleicht«, erwiderte sie mit einem Schulterzucken. »Aber bevor wir uns entscheiden, bring mich fort von hier und lehre mich das Leben!«
»Zu Befehl, Mylady«, grinste er und salutierte. Dann zog er sie in seine Arme und küsste sie sanft.
Kapitel 1
13. Mai 2013 – Zwischen Hamburg und Berlin
Der Audi RS5 rauschte mit 180 Stundenkilometern über die A24 in Richtung Berlin, und die hohe Geschwindigkeit drückte den Fahrer des Wagens in die weichen, ledernen Sportsitze der Luxuskarosse. Grinsend musste James Anthony Prescott an einen Werbeslogan denken, den er mal über dieses Auto gelesen hatte: »450 PS und den Himmel zum Greifen nah!«, so hatte es da geheißen. Und es stimmte tatsächlich, dieses rasante Geschoss konnte einem durchaus ein Gefühl von grenzenloser Freiheit vermitteln. Wann immer James nach Deutschland kam, und das war in den vergangenen Monaten recht häufig der Fall gewesen, hatte er es sich nicht nehmen lassen, sich die tollsten Mietwagen zu schnappen, die der Markt hergab. Die Deutschen bauten nun mal die besten Autos, und er nutzte seine Aufenthalte hier, um seiner Leidenschaft für schnelle Wagen zu frönen. Irgendwann würde er sich eines dieser rasanten Gefährte in die Garage stellen, bis dahin würde er weiter ausgiebig testen. Zuhause tat es momentan auch noch sein alter Ford Focus. Er war ja sowieso eher selten daheim. Seit knapp sechs Jahren arbeitete er nun schon als freier Reisejournalist. Ein Job, der ihm verboten viel Spaß machte. Kein Wunder, er bekam praktisch die ganze Welt zu sehen, lernte die interessantesten Leute kennen und kein Tag verging, an dem er nicht etwas Neues hinzulernte. Wie sagte seine Grandma immer: »Jeder Tag, an dem Du nichts dazulernst, ist ein verlorener Tag!« Und wie recht sie damit hatte. Die ersten Monate in diesem Job waren dennoch mühselig gewesen. Zu gut konnte er sich an seine
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