Die Tiefen deines Herzens
ihr vorbei und stürmte die Treppe hinauf.
In meinem Zimmer ließ ich mich zunächst mit dem Rücken gegen die Tür sinken und atmete ein paarmal tief durch, bevor ich anfing, im Raum auf und ab zu laufen. Warum war ich eigentlich so aufgewühlt? Schlug das Herz in meiner Brust wie eine hyperaktive Trommel, weil Charlotte mich beim Lauschen erwischt hatte? Oder war die Neugierde über das Streitgespräch zwischen Clara und Marc daran schuld? Womöglich war es einfach nur die Sorge, Charlotte könnte den beiden davon erzählen. Clara würde bestimmt nicht begeistert darüber sein, aber noch viel weniger wollte ich mir vorstellen, wie der ätzende Marc darauf reagieren würde.
Eine Weile rannte ich noch unruhig im Zimmer hin und her wie ein Tiger im Käfig, der sich mit der Gefangenschaft nicht abfinden kann. Dann nahm ich mein Handy und die Geldbörse von der kleinen weißen Kommode, verstaute beides in meiner Tasche und verließ den Raum.
Als ich kurze Zeit später die hölzerne Pforte hinter mir zuzog, atmete ich erleichtert auf. Weder Charlotte noch Clara oder Marc hatten meinen Weg gekreuzt.
Den knappen Kilometer bis zum Strand legte ich im Laufschritt zurück, und als ich das Geschrei der Möwen hörte und den Duft des Salzwassers einatmete, beruhigte ich mich langsam wieder.
Was war denn Schlimmes passiert? Charlotte hatte mich ertappt. Na und? Sie konnte nicht wissen, was ich mit angehört hatte. Außerdem: Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass Charlotte nicht der Typ Mensch war, der sofort zum Petzen zu Clara rannte. Nein, sie würde keinen Ton darüber verlieren, und es war das Beste, wenn ich die ganze Sache einfach abhakte. Genauso wie diesen nervigen Marc. Ich hatte zwar nicht viel mitbekommen, aber ich meinte immerhin gehört zu haben, dass Clara ihn schnellstens wieder loswerden wollte. Also, warum sich weiter Gedanken machen, wenn sich das Problem eh bald in Luft auflöste?
Zwei kleinere Jungs beschwerten sich lautstark, weil ich fast ihre Sandburg zertrampelt hätte.
»Oh, tut mir leid!«, rief ich und machte Anstalten, das Stückchen Sandmauer, das ich platt getreten hatte, wieder aufzuhäufen.
Doch der eine Junge blaffte mich an: »Lass das! Sonst machst du noch mehr kaputt!«
Ich hob entschuldigend die Hand und ging weiter.
Obwohl es nicht einmal zehn Uhr war, war der Strand schon recht voll. Nachdem der gestrige Tag eine kleine Pause vom Hochsommer eingelegt hatte, waren für heute an die dreißig Grad angesagt. Deshalb hatte der
Run
auf die Strandkörbe wohl so früh begonnen.
Ich lief ein paar Meter direkt am Wasser entlang, kehrte dann aber um und stieg die schmalen Holzstufen zur Seebrücke hinauf. Von hier oben hatte man einen herrlichen Ausblick weit über das Meer hinaus und auf den Strand bis hinüber zur Promenade mit den einzigartigen Villen, die in Zeiten der DDR heruntergekommen und verfallen waren. Clara hatte mir erzählt, dass es wohlhabenden Investoren aus der ganzen Welt nach der Wende gelungen war, den Glanz und die Pracht dieser teilweise historischen Gebäude wiederherzustellen. Nur noch wenige kleinere Häuser in zweiter oder dritter Reihe der Promenade erinnerten an die Zeit davor.
Ganz besonders die Villa Magda hatte es mir angetan. Sie schien einem Märchen der Brüder Grimm entsprungen zu sein. Schneeweiß mit zwei Türmchen und einer imposanten zweiflügeligen und reich verzierten Holztür. Sie war mir sofort ins Auge gestochen, als ich das erste Mal die Promenade entlanggegangen war, obwohl sie im Gegensatz zu den stattlichen Villen, die sich links und rechts von ihr befanden, fast mickrig erschien.
Als ich später Clara total begeistert davon erzählte, hatte sie gelacht und gemeint, dass es ihr ganz genauso ergangen sei.
»Ich habe mich gleich in einem der kleinen Turmzimmer sitzen und nach meinem Prinzen Ausschau halten sehen.«
»Und? Ist er gekommen?«, hatte ich schmunzelnd gefragt.
»Natürlich!«, hatte Clara theatralisch ausgerufen. »Jamie ist gleich auf seinem weißen Pferd angeritten gekommen, hat sich unter mein Turmzimmerfensterchen gestellt und mit liebreizender Stimme gerufen: ›Clara, Clara, lass dein goldenes Haar herunter!‹«
Ich hatte gelacht, und Clara hatte daraufhin von mir erfahren wollen, für wen ich meine Haare aus dem Fenster herunterhängen lassen würde.
»Da gäbe es schon jemanden …«, hatte ich geheimnisvoll erwidert und dabei sehnsuchtsvoll an Felix gedacht.
Ich lehnte mich an das
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