Die Tiefen deines Herzens
Das werde ich der Polizei sagen.«
Okay, von meiner Mutter hatte ich nichts anderes erwartet, aber von meinem Vater? Wo war er plötzlich, mein verständnisvoller Verbündeter, der mir immer gepredigt hatte, dass alle Menschen gleich sind – egal, welche Hautfarbe, Religion, Herkunft?
Pah, nichts als leere Worte! Jetzt auf einmal, wo seine Tochter sich in jemanden verliebt hatte, der seiner Meinung nach nicht der passende Umgang war, da zählte das alles nicht mehr.
Wieder seufzte ich und rieb mir über die Nasenwurzel, um die aufsteigenden Tränen zu vertreiben. Ich wollte nicht weiter an unseren Streit zurückdenken, wollte mich nicht daran erinnern, was ich meinen Eltern ins Gesicht geschrien hatte.
Irgendwann hatte ich einfach keinen anderen Ausweg gewusst, als in mein Zimmer zu rennen. Jedes weitere Wort wäre zwecklos gewesen, das hatte ich deutlich gespürt. Sie würden ihre Meinung nicht ändern – und ich meine auch nicht.
Nachdem ich eine Weile ruhelos auf und ab gegangen war, hatte ich einen Entschluss gefasst: Ich musste weg, zu Marc. Bis meine Eltern sich wieder etwas beruhigt hatten.
Ich hatte ein paar Klamotten in meine Sporttasche gestopft, zusammen mit meinem Portemonnaie und den zweihundert Euro Geburtstagsgeld, die ich zum Glück noch nicht zur Bank gebracht hatte, und dann hatte ich gewartet, bis mein Vater zur Arbeit fuhr und meine Mutter ins Bad verschwand.
Kaum war ich zur Tür hinaus, hatte ich Marc angerufen.
»Wann reist du nach England zurück?«, war ich ohne Umschweife auf den Punkt gekommen. Ich wollte nicht überlegen, wollte einfach das tun, was ich in dem Moment für das Richtige hielt. Vernünftig, vernünftig konnte ich auch noch morgen sein … oder übermorgen oder irgendwann mal wieder.
Marcs Stimme hatte sich etwas verunsichert angehört, als er erwiderte: »Warum? Willst du mich loswerden?«
»Nein, ich möchte mit!«
»Wenn das so ist, sitze ich mit dir im nächsten Zug, der nach London fährt.«
Anschließend hatte ich Geena angerufen.
»Hi, Süße«, war sie ans Handy gegangen. »Ich habe gerade erst gesehen, dass du mich gestern Abend noch mal angeklingelt hast. Bist du noch sauer auf mich? Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist, aber ich wollte dir irgendwie die Augen öffnen. Von wegen, dass du dich glücklich schätzen kannst, so einen genialen Typen wie Felix abbekommen zu haben, und diesem Marc nicht länger nachtrauern sollst. Ich weiß, ich weiß, ich bin mal wieder übers Ziel hinaus…«
»Geena, bitte hol Luft.«
Sie kicherte. »Japs. Japs. Genug Luft geholt. Darf ich jetzt weiterreden?«
»Nein. Weil es zwecklos ist. Ich habe Felix von Marc und mir erzählt. Und ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt erst mal für eine Weile weg bin.«
»Weg? Wie weg?«
»Marc ist in Berlin. Ich bin gerade auf dem Weg zu ihm. Meine Eltern sind total ausgeflippt.«
»Und jetzt willst du mit ihm abhauen oder was?«
»Ja, das habe ich tatsächlich vor. Zumindest so lange, bis meine Eltern sich wieder eingekriegt haben.«
»Verdammt, Leni, nein, tu das nicht! Bitte, mach keinen Mist. Du …«
»Tschüss, Geena, ich melde mich bei dir. Aber jetzt stelle ich mein Handy erst mal aus. Bis bald!« Damit hatte ich das Gespräch beendet. Fest davon überzeugt, das Richtige zu tun.
Als Marc und ich am Londoner Bahnhof Liverpool Street aus dem Zug gestiegen waren, war ich mir meiner Sache immer noch sicher.
»Mit der tube sind es nur vier Stationen«, sagte Marc. Er schaute mich mitfühlend an. »Aber du siehst so erledigt aus, dass ich dir das Gedränge lieber erspare.«
»Quatsch, es geht schon«, erwiderte ich. Doch als ich meinen Rucksack schulterte und mich dicht hinter Marc durch die Menschenmassen hindurchkämpfte, war ich heilfroh, dass er meinen Einwand ignoriert hatte und vorm Bahnhof eines der typischen schwarzen Taxis ansteuerte.
Erschöpft ließ ich mich in das weiche Leder der Rückbank sinken, während Marc auf den Beifahrersitz rutschte. Wie ich trug auch er nur einen Rucksack bei sich, den er im Fußraum verstaute. »61 Russell Square, please.«
Der Taxifahrer startete den Motor und fuhr los.
Was mich wohl am Russel Square erwartet?, dachte ich total erledigt und kämpfte gegen die Müdigkeit an.
Meine erste Fahrt durch London nahm ich nur im Halbschlaf wahr. Ich hielt Marcs Hand fest umschlungen, ließ die Bilder an mir vorbeiziehen und war vollkommen baff, als der Taxifahrer plötzlich in eine Einfahrt steuerte und vor der imposanten
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