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Die Tiefen deines Herzens

Die Tiefen deines Herzens

Titel: Die Tiefen deines Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Szillat
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Boden. Gerade haben wir den Eurotunnel verlassen.«
    Ich schaute aus dem Zugfenster, betrachtete die vorbeirasenden grünen Hügel und verspürte für den Hauch eines Moments so etwas wie ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch. Ich war also tatsächlich in England. Zum ersten Mal in meinem Leben.
    »Hast du Hunger?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Durst?«
    Erneut verneinte ich.
    Marc seufzte. »Leni, du hast seit Stunden weder gegessen noch getrunken. Ich kann ja verstehen, dass dir das Ganze irgendwie auf den Magen schlägt, aber so geht das einfach nicht.«
    Nichts verstehst du, dachte ich. Wie solltest du auch?
    Ich starrte auf mein Spiegelbild in der Fensterscheibe.
    Da saß ich nun. Im Zug nach London. Auf dem Weg in ein neues Leben. Ein Leben mit Marc. Egal, wo, Hauptsache, wir waren zusammen.
    Marc nahm meine Hand. »Bereust du es schon?«
    Ich schaute ihn an und dachte darüber nach. Dann schüttelte ich den Kopf. »Nein, das tue ich nicht.«
    Ein Strahlen ging über sein Gesicht. »Ich kann’s noch immer nicht glauben.« Er strich mir durch das Haar und hauchte mir einen Kuss auf die Nasenspitze. »Leni, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so glücklich war …«
    »Das freut mich«, erwiderte ich etwas hölzern.
    Prompt zog er die Augenbrauen zusammen. »Das freut dich?«
    Ich atmete tief durch und entzog ihm behutsam meine Hand. »Marc, in meinem Kopf herrscht noch immer das totale Chaos. Ich habe gerade mein ganzes bisheriges Leben über Bord geworfen. Da fällt es mir etwas schwer, von Glück zu reden. Kannst du das nicht verstehen?«
    Er betrachtete mich forschend, so als ob er ernsthaft darüber nachdenken müsste. Aber eigentlich war es mir egal, ob er mich verstand. Das war etwas, das ich mit mir selbst ausmachen musste.
    Ich hatte Felix verloren. Für immer. Daran hatte sein Blick, nachdem wir uns ein letztes Mal im Baumhaus umarmt hatten, keinen Zweifel gelassen. Keine Hoffnung auf Freundschaft, Leni, hatten mir seine blauen Augen versichert. Diese unglaublich blauen Augen, in denen ich noch kurz zuvor jedes Mal versunken war wie in einem tiefen, tiefen See – nie wieder auftauchen, für immer hatte ich mich in ihnen verlieren wollen. Früher einmal. Das war nun vorbei. Geschichte, hatte Felix gesagt. Das mit uns ist nun Geschichte.
    Ich hatte es gewusst. Ich kannte ihn zu gut – niemand kannte ihn so gut wie ich.
    Die ganze Woche, in der ich ihm die Wahrheit vorenthalten hatte, hatte ich gewusst, dass ich es ihm sagen musste und dass er es weder verstehen noch mir jemals verzeihen würde. Die Enttäuschung hatte sich wiederholt, so wie er es immer befürchtet hatte. Das, was Felix als achtjähriger Junge erlebt hatte, das hatte all die Jahre in irgendeiner Ecke gelauert, und nun war es wieder ganz frisch. Eine Bestätigung, dass man nicht lieben durfte, wenn man nicht am Ende mit gebrochenem Herzen dastehen wollte.
    Der Gedanke, dass ausgerechnet ich daran schuld war, zerriss mich beinahe.
    Aber da war Marc. Den ich liebte. Den ich so sehr vermisst hatte. Der meinetwegen aus England gekommen war, weil es ihm ganz genauso ergangen war wie mir. Weil auch er gespürt hatte, dass er ohne mich nicht sein konnte. Und auch wenn ich noch so viele Menschen dafür verletzen musste, ich würde es immer wieder tun – für Marc. Für Marc würde ich alles tun. Er war mein Schicksal und seinem Schicksal konnte man nicht entrinnen.
    So war das. Eigentlich ganz einfach.
    Seufzend ließ ich meine Stirn gegen das kühle Zugfenster sinken, aber ich konnte die Stimmen in meinem Kopf nicht vertreiben.
    »Leni, du wirst diesen Kerl nicht wiedersehen. Hast du mich verstanden?«, hörte ich meinen Vater sagen und erinnerte mich an den eisigen Blick, den er mir dabei über den Frühstückstisch zugeworfen hatte.
    »Ein Boxer! Meine Tochter und ein Boxer!«, hatte meine Mutter nur immer wieder ausgerufen.
    Meine Eltern hatten ein unglaubliches Theater veranstaltet, als ich ihnen am nächsten Morgen von Marc und mir hatte erzählen wollen. Während meine Mutter in erster Linie einfach nur von Marc, dem englischen Boxer, entsetzt war – so ein Typ war doch bitte schön kein Umgang für ihre Tochter! –, hatte mein Vater mir sogar damit gedroht, die Polizei zu informieren, wenn ich mich noch einmal mit ihm treffen würde.
    Ich hatte fassungslos den Kopf geschüttelt. »Und was willst du denen sagen? Marc hat mich zu nichts gezwungen. Ganz im Gegenteil!«
    »Du bist minderjährig, Leni. Scheinbar hast du das vergessen.

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