Die Tiefen deines Herzens
… Du kannst dich auf mich verlassen … Ich könnte dir nie wehtun …«
Come on, boys, sing it!
Ich habe Durst.
Was ist noch Realität? Was denke ich? Woran erinnere ich mich? Marc. Ich muss irgendwie diese Dunkelheit zur Seite schieben, damit ich den Himmel sehen kann. Die Sterne. Sirius.
Ein Blick in den Himmel. Es ist Tag. Es ist Nacht. Eben habe ich noch mit Marc getanzt.
Sing it, boys.
One, two, three …
Dann war er gegangen. Hatte mich einfach stehen lassen. Mitten in einem Wohnzimmer mit massiver Kommode im Kolonialstil – das einzig Wertvolle hier.
Nein, nein, es war doch im Hotelzimmer gewesen. Oder?
Marc war gegangen. Ich hatte ihm nachgeschaut. Mit offenem Mund, feuchten Händen, Schweiß auf der Stirn – und Tränen in den Augen. Ich konnte es echt nicht fassen, er hatte mich einfach zurückgelassen.
Yes, I do!
Sing the song.
Ich habe Durst.
Ich sterbe.
Ich sterbe.
Ich sterbe.
M an kann den Himmel berechnen
und die Erde ausmessen,
aber das Herz eines Menschen
kann man nicht bestimmen.
(Aus China)
23
»Leni, Leni, kannst du mich hören?«
Marc sah mich besorgt an. Er hatte sich über mich gebeugt. Tätschelte mein Gesicht.
»Verdammt! Verdammt! Verdammt! Was bin ich bloß für ein beschissener Scheißkerl!«
Ich blinzelte dem Tageslicht entgegen. »Wo bin ich?«, fragte ich erschöpft.
Etwas tropfte auf mein Gesicht, und überrascht stellte ich fest, dass es Marcs Tränen waren.
Ich hob die Hand. Kraftlos. Schwach. Strich ihm die Tränen von den Wangen.
»Nicht weinen …«
Hatte ich das gesagt oder er?
Er küsste meine Nasenspitze. »Clara ist gleich da. Und Jamie auch. Ich habe ihnen Bescheid gesagt. Ich schaffe es einfach nicht mehr …«
»Nicht weinen.«
Ja, das war ich. Aber warum singen die Jungs nicht mehr?
Everytime you go away.
Sing it, boys!
Als ich ein zweites Mal erwachte, schaute ich auf einen schmalen Rücken.
Ich wandte meinen Blick nach links, zum Fenster hin. Licht.
Ein Seufzer entwich mir.
»Leni, oh Gott, mein Schatz, endlich wachst du auf.«
»Mama?«, krächzte eine Stimme, die sich irgendwie nach meiner anhörte.
Meine Mutter weinte. Sie weinte so bitterlich, dass ihr gerader Rücken ganz krumm wurde. Ihr Oberkörper bebte und die Wimperntusche lief ihr in schwarzen Rinnsalen links und rechts übers Gesicht. Ihre Finger umklammerten ein Taschentuch. So fest, dass die Adern hervortraten.
»Gernot!«, rief sie. »Gernot, Leni ist aufgewacht.«
Die Tür wurde aufgestoßen.
Darf man in Krankenhäusern eigentlich Türen so heftig aufstoßen?, musste ich plötzlich denken.
»Was redest du denn da, Leni?«
Hatte ich gerade etwa laut gedacht?
»Mama, Papa«, krächzte wieder diese Stimme. »Was macht ihr denn hier?«
Und nun weinte auch Papa.
Wenn die nicht bald damit aufhören, brauche ich trockene Bettwäsche, ging es mir durch den Kopf.
Ich musste lachen. Ich wusste nicht, warum. Es kam einfach aus mir heraus.
Mama hielt mir die Stirn. Papa putzte sich schnaufend die Nase.
Und dann, so ganz ohne Vorwarnung, ohne wissen zu wollen, wo ich war, was geschehen war, wie meine Eltern so schnell hierhergekommen waren, fragte die Leni-Stimme: »Wo ist Marc?«
Mamas Mundwinkel nahmen einen qualvollen Zug an. So als wäre Marc der letzte Mensch auf Erden, über den sie jetzt reden wollte.
Okay, dass sie echt sauer auf ihn war, weil er mich einfach in diesem Haus zurückgelassen hatte, konnte ich verstehen. Aber er war doch wiedergekommen. Daran erinnerte ich mich ganz deutlich. Er hatte mich hochgehoben und durch den Wald zum Auto getragen und dann war er gefahren, wie ein Verrückter.
Warum hatte er mich eigentlich getragen?
Ich schaute an mir hinunter.
Mein Bein befand sich in einer Art Schiene, zwei lange Schläuche führten unter den Verband, einer auf Höhe des Knies, einer oberhalb des Knöchels.
Ich deutete mit dem Kopf darauf. »Was ist das?«, fragte ich meine Mutter.
Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Ich hatte sie noch nie so müde erlebt, ganz blass und dünn. »Kannst du dich denn an gar nichts mehr erinnern, Leni?«
Ich hob die Schultern. »Doch, schon … Marc hat mich ins Krankenhaus gebracht. Weil ich im Wald gestürzt bin …« Ich brach ab, als sich auf einmal dieser Typ, dieser Schatten, in mein Bewusstsein drängte.
»Du hast dir das Wadenbein und das Schienbein gebrochen und bist sofort operiert worden. Das Wadenbein musste mit einer Art medizinischen Stange geschient werden, das Schienbein wurde genagelt«,
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