Die Time Catcher
Bürgersteig nicht sehen, aber jeden hören, der sich auf ihm nähert.
Es dauert nicht lange, bis ich Schritte wahrnehme.
Das Geräusch der Sohlen auf dem Bürgersteig ist unverkennbar. Außerdem bemerke ich ein leichtes Nachziehen des linken Fußes. Aber bei diesem Spiel geht es nicht darum, richtig zu raten. Im Gegenteil: Je fantasievoller die Aussagen zu der vermeintlichen Person und ihren Lebensumständen sind, umso besser.
»E in 115-Kilo-Mann«, fange ich an, »d er ständig einen Klumpen Kautabak in seiner Wange trägt, der ihn an seine gescheiterte Baseballkarriere bei den Yankees erinnert. Er trägt ein frisches weißes Hemd, eine karierte Hose sowie ein Brillengestell mit Schildkrötenmuster. Unter dem Arm hat er eine Aktentasche aus Kunstleder, in der sich die repräsentative Auswahl einer neuen Produktlinie für parfümierte Nasenwärmer befindet. Du bist dran.«
»S ein Hemd war weiß«, verbessert sie, »b is der Ketchup seines Bejingburgers vor einer Stunde einen großen roten Fleck unterhalb seines Ellenbogens verursachte, der die Umrisse von Florida hat. Und obwohl du dich leider nicht selbst davon überzeugen kannst, befindet sich auf seinem unteren Rücken ein Tattoo in Form eines Herzens, in dem Mamas Liebling steht. Mach weiter!«
Das Geräusch der Schuhe auf dem Pflaster ist plötzlich nicht mehr zu hören. Nach einem kurzen Moment der Stille folgt der mächtige Trompetenstoß eines Niesens.
Großartig. Wenn wir Schritte des Schicksals spielen, ist jede Körperreaktion für den erfahrenen Spieler natürlich eine wahre Fundgrube.
»B rille, karierte Hose und Aktentasche sind natürlich nur Bestandteile seiner raffinierten Verkleidung«, fahre ich fort. »D enn in Wahrheit ist er gar kein Vertreter für Nasenwärmer. Er heißt Victor Sanayowitsch und ist Geheimagent einer Detektei in Ohio. Die Mission, auf der er sich befindet, ist wirklich topsecret, und sein Niesen ist auch kein normales Niesen, denn etwas sehr Spezielles fliegt dabei aus seiner Nase. Wie geht’s weiter, Abbie?«
Sie lacht. Victors Schritte sind jetzt direkt unter ihnen. In wenigen Sekunden werden sie verklungen sein.
»W enn Victor niest«, fährt Abbie fort, »l anden die feinen Partikel eines Fingerabdruckpulvers auf der Brezel, die er soeben von Lorenzo bekommen hat, der seinen Brezelstand in diesem Moment vor unserem Hauptquartier aufbaut. Die Brezel ist immer noch warm, als Victor den Abdruck mit seinem mobilen Erkennungssystem überprüft und seine Identität feststellt. Lorenzo ist nämlich alles andere als ein harmloser Brezelverkäufer. Als er noch im Kindergarten war, hat er seine überbackenen Makkaroni regelmäßig gegen Claudio Fazios Sandwich mit Fleischklößchen eingetauscht. Dann hat er das Brot weggeworfen und die Fleischklößchen als Einsatz benutzt, wenn in der Mittagspause hinter dem Klettergerüst irgendwelche Glücksspiele stattfanden.«
Ich stoße einen anerkennenden Pfiff aus.
»K omm, lass uns nachschauen, wie er wirklich aussieht.« Abbie tänzelt die Feuerleiter hinunter.
»O der sie «, sage ich und folge ihr. Unten angekommen laufen wir auf die Straße und schauen nach rechts. Sofort erblicken wir zwei Personen, die der Entfernung nach zu urteilen infrage kommen – bei der einen handelt es sich um eine groß gewachsene Frau in einem eng anliegenden schwarzen Trainingsanzug; die andere ist ein kleiner Mann mit Glatze, der einen Pudel unter dem Arm trägt.
»W as meinst du?«, fragt Abbie.
»H m, ist bestimmt die Frau«, antworte ich. »D ie sieht so aus, als könnte sie eine Brezel sehr weit werfen.«
»I ch tippe eher auf ihn«, sagt sie.
Als wir ihnen nachschauen, bleibt der Mann erneut stehen und gibt ein weiteres ohrenbetäubendes Niesen von sich. Das ist zu viel für uns. Abbie und ich rennen zur Feuerleiter zurück und lassen uns prustend vor Lachen auf die unterste Stufe fallen.
Als wir uns einigermaßen erholt haben, schaue ich sie an, als müsste auch ich jeden Moment niesen, was bei uns einen erneuten Lachanfall zur Folge hat.
»O kay«, sagt sie schließlich, »b ist du bereit zur Operation Helios?«, fragt sie.
Abbie erfindet Codenamen für alle unsere Missionen. Dann hören sie sich glamouröser an, sagt sie.
»F ertig«, sage ich.
Unsere Aufgabe besteht darin, das erste Foto zu stehlen, das je gemacht wurde. Wir werden deshalb ins Jahr 1826 zurückreisen und unmittelbar außerhalb eines französischen Dorfes namens Saint-Loup-de-Varennes landen. Der Catch wird
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