Die Time Catcher
mit einem dicken schwarzen Filzstift eingekreist worden.
Sind Sie das?, fragte ich die Frau und zeigte auf die markierte Tänzerin. Natürlich eine überflüssige Frage, denn ich kannte die Antwort bereits. Und wisst ihr, was ich dann getan habe?«, fragt Onkel.
»N ein, wissen wir nicht«, lügt Lydia.
»I ch habe ihr den Reklamezettel zurückgegeben und ging meiner Wege.« Er macht eine rhetorische Pause, ehe er fortfährt. »S eit dieser zufälligen Begegnung im Park hat sich mir das Bild dieser alten Finger ins Gedächtnis eingegraben, diese Finger der alten Frau, die sich buchstäblich an ihrer eigenen Vergangenheit festklammerten.
Der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt. Ich habe jeden Einzelnen von euch, meine allerersten Time Catcher, in Dienst genommen, damit ihr mir helft, wertvolle Gegenstände aus der Vergangenheit zu beschaffen.«
Onkel macht eine weitere Pause, und ich frage mich, ob er auf unseren Applaus wartet. Okay, die Story ist nicht übel, aber ich habe mich immer gefragt, was mit der Dollarmünze geschehen ist. Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass er ohne sie nach Hause gegangen ist.
Für einen Moment macht er einen wehmütigen Eindruck, dann räuspert er sich und sagt: »A lso, habt ihr alle eure Sätze vorbereitet? Ich darf euch daran erinnern, dass das Wort des Abends piào liàng heißt, was schön bedeutet.«
Ich nicke ebenso wie die anderen, obwohl ich gezwungen bin, mir spontan etwas zu überlegen. Glücklicherweise fängt Onkel stets an einem der Tischenden an und nie in der Mitte.
»D u zuerst, Caleb«, fordert er mich auf.
So viel zur Theorie.
»D er … äh … Sonnenuntergang in Beijing ist piào liàng«, sage ich.
»G ut«, kommentiert Onkel. »L ydia, du bist dran.«
»E s gibt nichts, das noch mehr piào liàng ist als ein perfekter Catch«, sagt sie.
»G roßartig!«, ruft Onkel und schlägt vor Begeisterung auf die Tischplatte. »R aoul?«
»D as Essen war piào liàng«, sagt er.
»J a, das war es in der Tat«, bestätigt Onkel lächelnd. »M ario?«
»D ie Person, die mir heute beim Servieren der Speisen geholfen hat, ist piào liàng«, sagt er mit scheuem Lächeln in Abbies Richtung.
Ich werfe Abbie einen raschen Blick zu. Ich kann es nicht glauben. Sie lässt sich doch tatsächlich von dem Typen um den Finger wickeln und läuft rot an. Sie schaut mit verklärtem Blick zu ihm hinüber.
»U nd jetzt noch Abbie«, sagt Onkel.
Sie sieht Onkel für einen Moment an, ehe sie ihren verträumten Blick wieder auf Mario richtet. Mario strahlt sie an wie eine Tausend-Watt-Birne.
Das ist zu viel für mich. Am liebsten würde ich mich in einem Loch verkriechen.
Abbie räuspert sich und sagt: »S chwarze Locken sind piào liàng. «
Könnte sich jetzt bitte die Erde auftun?
Sie tauschen immer noch verliebte Blicke, als ich beschließe, dass ich genug habe.
»W ürdest du mich entschuldigen, Onkel?«, sage ich, während ich bereits aufstehe. »I ch fühle mich nicht gut.«
»E inen Moment, Caleb«, entgegnet er. »I ch möchte zuvor noch den Time Catcher des Monats bekannt geben.«
Obwohl der Juni erst in einer Woche beendet sein wird, hat Onkel schon seine Entscheidung getroffen.
Ich setze mich wieder hin und blicke verstohlen zu Mario hinüber. Er lächelt selbstgefällig. Offenbar ist er sicher, das Rennen gemacht zu haben. Das wäre das dritte Mal nacheinander – sollte er tatsächlich gewinnen, wäre er danach bestimmt noch unerträglicher als ohnehin.
Meine eigenen Hoffnungen sind gering. Würde sich Onkel allein auf die Anzahl gelungener Diebstähle beschränken, dann hätte ich natürlich die Nase vorn. Doch ehrlich gesagt, sind mir seine Kriterien ein Rätsel.
»D er Gewinner dieses Monats ist … Lydia!«, verkündet er.
Lydia ist außer sich vor Freude. Sie springt auf, klatscht in die Hände und stößt einen hellen Schrei aus.
»H erzlichen Glückwunsch zu deiner guten Arbeit, Lydia«, fährt er fort. »H ast du dir schon deine Belohnung ausgesucht?«
Soll das ein Witz sein? Lydia lebt ausschließlich für Momente wie diesen. Ich wette, sie weiß schon seit mindestens einem Monat, wohin sie im Fall der Fälle reisen wird. Der Preis für den Gewinner besteht nämlich in einem kostenlosen Wochenendaufenthalt in einem von Onkels Domizilen. Er besitzt ungefähr ein Dutzend Ferienhäuser, die sich allesamt an wunderschönen Orten befinden.
»J a, Onkel, ich weiß genau, wo ich das Wochenende verbringen möchte – auf deinem
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