Die Time Catcher
vor der Vitrine stehe. Dann greife ich zu meinem Messer, schneide einen Streifen von meinem T-Shirt ab und wickele den Stoff um meine Hand, die ich anschließend zur Faust balle.
»K iaaaah!« Mit einem lauten Schrei schlage ich die Scheibe des Schaukastens ein.
Vermutlich hat mich bisher niemand der etwa dreißig Umstehenden angegriffen, weil alle vor Schreck wie gelähmt sind. Mir soll es recht sein. Im Grunde ist es die Reaktion, die ich mir erhofft habe. Doch natürlich wird sie nicht ewig anhalten. Ich schätze, dass ich in spätestens fünf Sekunden den allgemeinen Zorn der Leute zu spüren bekommen werde.
Aber in fünf Sekunden kann man so einiges tun.
Ich schnappe die Vase des Xuande aus der zerschmetterten Vitrine. Für den Bruchteil einer Sekunde kommt mir in den Sinn, das Duplikat hineinzustellen, doch wozu sollte das gut sein? Jeder in meiner Nähe hat gesehen, wie ich das Original an mich gebracht habe.
Jedenfalls hoffe ich, dass es das Original ist. Wenn ich mir überlege, was in letzter Zeit zwischen mir und Mario vorgefallen ist, kann ich mir niemals sicher sein. Ich schaue mich um. Die meisten Leute stehen immer noch untätig herum, doch gibt es auch ein paar junge Männer, die so aussehen, als würden sie sich jeden Moment auf mich stürzen. Ich muss jetzt schnell handeln.
Ich streiche mit den Fingern sanft über die Vase und vergleiche ihre Eigenschaften mit meinen Briefing-Daten. Zwei Sekunden später erhalte ich das Ergebnis meines Scans.
Es ist eine Fälschung!
Ich kann es nicht glauben. Das ist doch nicht möglich! Mario hat mich erneut betrogen. Doch diesmal wird er damit nicht durchkommen.
Onkels Worte hallen durch meinen Kopf: »D ie Vase verließ China am 10. Mai 1431 an Bord eines Schiffes, das von dem berühmten Admiral Zheng befehligt wurde … Nach seiner Ankunft im Osmanischen Reich wurde die Vase Sultan Murad II verehrt. Danach gibt es keine Quellen mehr über den weiteren Verbleib der Vase. Sie taucht erst 1967 wieder auf …« Die Schiffsreise! Die muss Mario genutzt haben, um die Vasen auszutauschen!
Jemand packt mich am Arm. Als ich mich zu befreien versuche, fällt die Vase zu Boden und zerspringt in tausend Stücke. Ich muss sofort raus hier!
Ich klopfe wie wild auf mein Handgelenk. Eigentlich sollte ich mir einen besseren Ort für meinen Zeitsprung aussuchen. Mindestens fünfzig Leute werden Zeugen meines Verschwindens sein. Doch für mich geht es um Leben und Tod. In diesem Moment höre ich eine vertraute Stimme.
»E in bisschen näher ran, Liebes, und geh in die Hocke, damit ich dich mit den Scherben draufkriege«, sagt Sidney Halpern und macht seine Rolleiflex bereit. »J etzt halt still!«
Er drückt auf den Auslöser, und als der Blitz zuckt, spüre ich, wie mein Körper sich auflöst.
Die letzten Worte, die ich höre, bevor ich das zwanzigste Jahrhundert verlasse, stammen von Louise: »W enn du noch einmal halt still sagst, Sidney Halpern, dann kannst du was erleben!«
12. Mai 1432, 15:12 Uhr
Auf einem Handelsschiff namens Tian Fei
Irgendwo auf dem Südchinesischen Meer
I ch schnappe nach Luft. Als wäre sämtlicher Sauerstoff aus meinem Brustkorn entwichen. Mein halb geöffneter Rucksack liegt neben mir. Der obere Teil des Replikats lugt heraus. Ich drehe mich auf den Rücken. Sehe blaue und weiße Flecken. Wolken? Ich zwinkere. Nein, keine Wolken. Segel. Sechs riesige, prachtvolle Segel, die sich im Wind bauschen.
Das muss ich Onkel lassen. Er versteht wirklich etwas von Zeitreisen. Ich meine, es ist schließlich eine beachtliche Leistung, mich mehrere Hundert Jahre in die Vergangenheit zu schicken und genau auf dem Deck eines Segelschiffs landen zu lassen. Hätte er sich mit Ort und Zeit nur ein klein wenig vertan, würde ich jetzt im Ozean planschen.
Zu schade, dass Abbie nicht hier ist. Doch wenn ich näher darüber nachdenke, wäre sie vielleicht nicht allzu begeistert von dem, was ich gerade anstelle. Schließlich bin ich nicht Mario.
Von wegen toller Mario!, würde ich am liebsten sagen. Nein, nicht sagen. Noch lieber würde ich es herausschreien. Und dies scheint mir dafür der geeignetste Ort der Welt zu sein, denn der Wind heult ohnehin, und sechs Meter hohe Wellen krachen gegen die Bordwand.
Für Selbstmitleid ist später noch Zeit, sage ich mir. Im Moment muss ich einen kühlen Kopf bewahren.
Ich atme tief durch. Ein würziger Geruch liegt in der Luft. Gischt sprüht auf meinen Ärmel.
Hinter mir poltern schwere Schritte. Als ich mich
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