Die Time Catcher
das Eis nicht binnen fünf Minuten serviert wird? Nun ja, dann könnte ich mir irgendwas ausdenken und unter einem Vorwand hierher zurückkehren.
Und was ist mit der Beleuchtung? Ich greife in meine Tasche. Die Fernbedienung ist immer noch da, aber gegen das Notstromaggregat kann sie nichts ausrichten. Ich muss warten, bis das ursprüngliche System wieder in Betrieb ist, und wer weiß, wie lange das dauern wird? Vielleicht sollte ich das Licht einfach vergessen und mir die Vase so schnappen.
Das ist doch Wahnsinn! Wie kann ich auch nur daran denken, mit der Familie ein Eis essen zu gehen? Dies ist die wichtigste Mission meiner Laufbahn. Abbie zählt auf mich. Und Onkel hat mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich ihn besser nicht enttäuschen sollte.
Ben reckt sein Kinn und wartet auf meine Entscheidung. Ich kenne ihn doch gar nicht. Er ist nur ein x-beliebiger kleiner Junge, der mit seinen Eltern die Expo ’67 besucht, oder? Wenn ich Nein sage, wird er vielleicht einen Moment lang enttäuscht sein, doch morgen schon wieder alles vergessen haben. Warum mache ich dann eine große Sache daraus? Warum fällt es mir so schwer, dankend abzulehnen?
Auch Jim und Diane sehen mich neugierig an und scheinen auf eine Antwort zu warten.
Ben steckt seine Hand in die Tasche und zieht den Spielzeugsoldaten heraus. Dann hebt er ihn so hoch, wie es seiner fast fünfjährigen Hand möglich ist, blickt mir tief in die Augen und sagt mit ernster Stimme: »M ein Soldat befiehlt dir mitzukommen!«
Ich werde von widerstreitenden Gefühlen gepackt, will gleichzeitig lachen und weinen. Verschiedene Bilder spuken mir durch den Kopf: vom Vater in Beijing, der seinen Sohn hoch in die Luft hebt, von dem strahlenden Jungen in London, der mit seinen Schwestern Engelchen flieg spielt. Als ich Ben anschaue, sehe ich in ihm mehr als einen vierjährigen Jungen, der eine Spielzeugfigur in der Hand hält. Ich sehe mich selbst mit all meinen Hoffnungen und Träumen von einem normalen Leben in einer ganz normalen Familie. Ich kann mich jetzt nicht sang- und klanglos von ihm verabschieden, weil ich fürchte – mehr noch, weil ich eine schreckliche Angst davor habe –, damit einen wichtigen Teil von mir selbst zu verlieren.
Aber was ist mit Abbie und Onkel …
Was ist mit mir?
Ich hebe langsam die Hand und höre mich selbst sagen: »O kay, Soldat, ich gebe mich geschlagen.«
Dann schalte ich auf Gedankenübertragung und teile Abbie mit: Bin in wenigen Minuten wieder da.
Sie antwortet nicht, was bedeutet, dass sie meine Nachricht nicht empfangen hat oder sehr böse auf mich ist. Oder beides.
8. Juli 1967, 19:36 Uhr
Expo ’67, Montreal, Kanada
Operation Blauer Vogel
D as Jade Café sieht von innen noch beeindruckender aus als von außen. Als ich in der Schlange vor dem Chinesischen Pavillon stand, habe ich bereits die originellen Sträucher bemerkt, doch erst jetzt sehe ich, dass sie so zurechtgestutzt sind, dass sie bestimmten Tieren gleichen: Schildkröten, Vögeln, sogar einem Bären.
»M eine Lieblingssorte ist Schokolade«, verkündet Ben, als wir an einem Tisch Platz nehmen. »U nd meine andere Lieblingseissorte ist Erdbeer.«
»E igentlich kann man ja nur eine Lieblingssorte haben«, sagt Jim.
»D addy hat recht«, schaltet sich Diane ein, zieht ein paar Buntstifte sowie einen Zeichenblock aus ihrer Tasche und legt beides vor Ben auf den Tisch. »J eder sucht sich die Sorte aus, die er am liebsten mag. Du musst dich entscheiden, mein Schatz.«
»D ann nehme ich Butterkaramell«, sagt Ben und greift zu den Buntstiften. Alle lachen, auch ich.
Es tut gut zu lachen. Doch nehme ich noch ein anderes Gefühl wahr. Eines, das mich mit einem sanften Prickeln und innerer Wärme erfüllt. Es ist nur schwer zu beschreiben, aber es fühlt sich vor allem richtig an. Als sollte ich in diesem Moment hier sein. Zusammen mit Ben, Jim und Diane.
Das Café ist gut besucht. Viele Familien mit ihren Kindern. Vielleicht halten sie mich, Caleb, Time Catcher und Vollwaise, für Bens älteren Bruder. Für das ganz normale Mitglied einer ganz normalen Familie.
»W o sind deine Mom und dein Daddy?«, fragt Ben und macht mein Gedankenspiel mit einem Schlag zunichte.
»D ie sind … nicht hier«, antworte ich und merke sofort, dass sich diese Antwort ziemlich dumm anhört. Fast rechne ich damit, jeden Moment Abbies Stimme in meinem Kopf zu hören: Sehr originell, Caleb! Doch meine neuronalen Rezeptoren bleiben stumm. Von unserer Zusatzzeit sind
Weitere Kostenlose Bücher