Die Time Catcher
bist du?«, rufe ich laut. Die Angst in meiner Stimme erschreckt mich.
Ich taste mich durch das Zwielicht. Irgendwo muss sie doch sein. Meine Hand stößt gegen etwas Hartes. Es ist eine Brechstange.
Ich schiebe die Eisenstange unter den Deckel der ersten Kiste und hebele sie auf.
Seide.
Ich fege sie beiseite. Ein Hustenreiz schüttelt mich. Wasser flutet den Frachtraum. Dunkles, schmutziges Wasser, dessen Pegel rasch ansteigt.
Holz splittert, als ich die nächste Kiste aufbreche.
Tee.
Weiter zur nächsten Kiste.
Noch mehr Tee.
Ich gerate in Panik. Und falls ich doch auf dem falschen Schiff bin? Oder zur falschen Zeit auf dem richtigen Schiff?
Nur eine Kiste ist noch übrig. Sie trägt keine Aufschrift, sondern ist mit einem Bild verziert, einem fliegenden Drachen. Könnte das …?
Ich führe mir das Bild der Xuande-Vase auf der Expo ’67 vor Augen – ja, auch auf ihr war ein fliegender Drache abgebildet, derselbe wie auf dieser Kiste!
Ich wate durch das Wasser, das mir inzwischen bis zur Brust steht. Verschiedene Gegenstände treiben an mir vorbei: Stuhlbeine, ein Rad, drei kleine Fässer. Ich muss mich in Acht nehmen.
Erneut setze ich das Brecheisen an. Das Holz knackt gewaltig, während es nachgibt. Ich drücke noch stärker, doch nicht der Deckel springt auf, sondern zwei Holzstäbe der Kiste brechen.
Ich stecke meine Hand durch die Öffnung, bewege meine Finger hin und her, um die Vase zu ertasten.
Der Qualm lässt mich kaum noch atmen.
Ich fühle Holzspäne an meinen Fingern. Wühle mich durch sie hindurch, tiefer in die Kiste hinein, und ignoriere die scharfen Splitter, die meinen Arm aufritzen. Plötzlich spüre ich etwas Hartes. Die Vase!
Rasch, aber behutsam, um sie nicht zu beschädigen, ziehe ich sie aus der Kiste hervor.
Mein Herz schlägt schneller. Für einen Moment sehe ich doppelt. Ich könnte schwören, zwei Vasen zu erblicken. Ich kneife die Augen zusammen und warte, bis der Schwindel vergeht.
Ich öffne die Augen wieder. Besser. Nur noch eine Vase zu sehen. Und sie wirkt echt. Aber ich muss mir ganz sicher sein.
Ich schließe erneut die Augen und streiche mit den Fingern über die glatte Oberfläche der Vase. Warum dauert der Scan so lange? Vermutlich wird er vom Zeitnebel verzögert.
Ich starte den Vorgang noch einmal. Diesmal mit Erfolg. Nach wenigen Sekunden habe ich Gewissheit.
Aber die Wahrheit ist hässlich.
Ich halte eine Vase aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert in der Hand.
Mario!
Eine blinde Wut steigt in mir auf, die mir fast den Verstand raubt. Ich hebe die gefälschte Xuande-Vase hoch über meinen Kopf.
In Gedanken sehe ich bereits, wie ich sie gegen die Wand schleudere. Es wäre ein gutes Gefühl, sie in tausend Stücke zersplittern zu sehen. So gut.
Doch ich kann mich im letzten Moment beherrschen. Mario wollte bestimmt, dass ich genau so reagiere. Dass ich die Kontrolle verliere! Aber diesen Triumph gönne ich ihm nicht. Vorsichtig lege ich das Duplikat in die Kiste zurück.
Ein Plan nimmt Gestalt an. Zunächst werde ich einen Zwischenstopp beim Hauptquartier einlegen und ein paar Worte mit Phoebe wechseln.
Tipp tipp tipp auf mein rechtes Handgelenk.
Komm schon. Warum bin ich noch nicht weg?
Ich beginne zu zittern und will mich mit einer Hand an der Wand abstützen. Aber die Wand ist verschwunden. Genau wie ich.
24. Juni 2061, 8:05 Uhr
Edles für die Ewigkeit, Hauptquartier
Tribeca, New Beijing (früher New York City)
I ch lande in der Gasse, zwei Häuser vom Hauptquartier entfernt. Stocksauer über Marios Einmischung bei meinem letzten Einsatz. Korrektur: bei Abbies und meiner gemeinsamen Mission. Was mich zur nächsten Frage führt: Lässt er nicht auch Abbie schlecht aussehen, wenn er so etwas abzieht? Oder heckt er die Störmanöver gemeinsam mit Onkel aus, um mir anschließend die alleinige Schuld in die Schuhe schieben zu können?
Ich habe jetzt ausgiebig Zeit, über all diese Dinge nachzudenken, weil ich in der Phase zwischen Zeitstarre und Zeitnebel nirgendwo hingehen werde. An der Mündung der Gasse zieht eine Parade neuer Einwohner von New Beijing vorüber. Ich finde den Gedanken aufregend, dass es da draußen Leute gibt, deren Leben nicht das Geringste mit meinem zu tun hat. Ich weiß, es klingt verrückt, doch ab und zu verspüre ich den Drang, einigen dieser Leute zu folgen, um zu beobachten, wie ein normales Leben überhaupt aussieht. Ob sie sich das bei mir auch fragen? Ich wette, sie haben keine Ahnung, dass der schmächtige
Weitere Kostenlose Bücher