Die Time Catcher
nicht mehr wie spitze Pfeile vorkommen, die mein Gehirn durchbohren.
So ähnlich muss sich ein heftiger Kater anfühlen.
Allmählich scheinen meine Gedanken wieder einen Sinn zu ergeben. Das war knapp. Wie dumm von mir, so lange in der Vergangenheit zu bleiben. Und noch dümmer, dem Brombeeratem eine zu verpassen. Aber er hat angefangen.
Langsam rappele ich mich auf. Gott sei Dank sind meine Rückkehrdaten immer so programmiert, dass ich automatisch zu Hause lande. In meinem zeitumnebelten Zustand hätte ich wohl nicht mal das richtige Jahrhundert getroffen.
Von der Gasse aus gehe ich aber nicht nach rechts in Richtung Hauptquartier, sondern biege nach links ab. Ich brauche noch etwas Bewegung, ehe ich Nassim gegenübertrete. Als ich unter der West Street hindurch in Richtung Park gehe, beginnt es zu regnen, wenn auch nicht so heftig wie eben noch in Bridgeport.
Während ich weitertrotte, kehrt ein Teil der alten Energie in meine Beine zurück. Zwei Fahrräder rollen an mir vorbei, lassen Wasser aufspritzen, das meine Hose sprenkelt. Von hier aus habe ich einen guten Blick auf den Hudson und die Skyline von Hoboken auf der anderen Seite des Flusses. Unter dem Dach aus Regenwolken sehen die Häuser New Jerseys dunkel und eintönig aus.
Ich denke an Ben. Vielleicht sollte ich ihn einfach vergessen. Sein Leben geht mich nichts an. Es heißt, wer ein Leben rettet, der übernimmt auch die Verantwortung dafür. Aber das glaube ich nicht. Ben hat Eltern. Er braucht mich nicht. Aber was ist, wenn Mario versucht, ihn zu entführen? Das darf ich nicht geschehen lassen.
Ich halte immer noch die Kuchenform fest. Jetzt ziehe ich sie unter meiner Jacke heraus und strecke sie in Richtung Hudson. Gut geworfen könnte sie vielleicht über den Fluss hinwegsegeln. Es wäre so einfach – ich muss nur mit dem Arm ausholen und sie fliegen lassen. Ich weiß, dass es dumm wäre und Onkel mich drakonisch bestrafen würde, wenn er es herausfände. Doch obwohl ich all dies weiß, fällt es mir schwer, der Versuchung zu widerstehen. Ich habe mal gelesen, dass Leute, die unter Höhenangst leiden, sich von steilen Klippen magisch angezogen fühlen. So ähnlich geht es mir jetzt … ich spüre einen unbändigen Drang, etwas ganz und gar Verrücktes zu tun.
Ich zwinge mich, die Kuchenform wieder unter meine Jacke zu stecken, und gehe weiter. Der Regen hat nachgelassen, doch am Himmel zeigt sich immer noch eine geschlossene Wolkendecke. Als ich in die Franklin Street einbiege, flitzt eine graue Katze vor mir über die Straße und verschwindet unter einer geparkten Rikscha.
Im Hauptquartier angekommen, atme ich erst mal tief durch, um mich zu beruhigen. »B itte in den Dritten, Phoebe«, sage ich und höre, wie matt meine Stimme klingt.
»S elbstverständlich, Eure Nassheit«, witzelt Phoebe. »A ber zieh erst die Schuhe aus. Ich habe gerade den Boden gesaugt.«
Phoebe trägt einen tief ausgeschnittenen Turnanzug mit Leopardenmuster. Die dunklen Ringe unter ihren Augen passen zu ihrem pechschwarzen Irokesenschnitt. Ihren rechten Oberarm ziert ein Tattoo, das Death Lives verkündet.
»O kay, können wir jetzt fahren?«, frage ich, nachdem ich aus den Schuhen geschlüpft bin.
»A ber klar doch. Wenn wir oben angekommen sind, solltest du dir allerdings die Nase zuhalten«, fügt sie hinzu.
»W arum das?«
»W eil Raoul heute kocht … falls man das so nennen kann.«
»U nd was kocht er?«
»B rokkoli.«
»U nd was noch?«
»N ichts, das ist alles«, antwortet Phoebe.
Ich nicke. Sollen die anderen über das Menü beziehungsweise das fehlende Menü meckern, ich habe sowieso keinen Hunger.
Ich gehe unverzüglich Richtung Schlafzimmer. Dabei sollte ich erst mal die Kuchenform bei Nassim abliefern. Falls ich das nicht tue, werde ich schon bald von ihm hören. Aber mir ist im Moment einfach nicht danach.
Glücklicherweise ist der Raum leer. Ich lasse mich auf meine Matratze sinken, ziehe meine Schnitzarbeit unter dem Bett hervor und mache mich daran, die Stellen um die Augen herum zu bearbeiten. Das Gewicht des Messers in meiner Hand fühlt sich gut an und die gleichförmigen Bewegungen der Klinge haben eine beruhigende, fast hypnotische Wirkung auf mich.
»G uten Abend allerseits!«, höre ich Nassims Stimme über die Sprechanlage. »I n fünf Minuten gibt es Abendessen. Das Wort des heutigen Abends lautet xiao, was die Liebe zwischen Familienmitgliedern bedeutet. Jeder muss mit diesem Wort einen Satz seiner Wahl bilden.«
Das ist
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