Die Time Catcher
Ausbildung werden in mir wach. Gute Zeiten. Ich kann mich an Fußballspiele erinnern, bei denen Onkel im Tor stand. Und ich erinnere mich an einige meiner Kostüme, vor allem an den großen Hut und den langen blau-roten Mantel, den ich als Napoleon getragen habe. Onkel war vor Begeisterung schier aus dem Häuschen, als er mich darin sah. Diese Kinder haben ja keine Ahnung, was sie erwartet, wenn sie einmal mein Alter erreicht haben werden. Aber ich denke, es ist gut, dass sie es nicht wissen. Dann können sie jedenfalls die Gegenwart genießen.
»I n der erste Etage ist eine Cafeteria beziehungsweise der Speisesaal«, fährt Onkel fort. »U nd im zweiten und dritten Stock befinden sich die Schlafräume für die Rekruten. Und ganz oben im vierten ist mein Büro. Noch irgendwelche Fragen?«
Lydias Hand schnellt nach oben. Keine Überraschung. Sich selbst beim Reden zuzuhören, ist das Zweitschönste, was sie kennt, und rangiert unmittelbar hinter sich selbst im Spiegel zu betrachten.
»J a, Lydia«, sagt Onkel.
»W ohin führt diese Tür?« Sie zeigt auf eine kupferfarbene Flügeltür am anderen Ende der Fabrikhalle.
»S ehr gut beobachtet«, bemerkt Onkel. »D ahinter befindet sich ein altmodischer Aufzug. Als dies noch eine Schuhfabrik war, wurde er dazu benutzt, die Schuhe, die in der Halle gefertigt worden waren, ins oberste Geschoss zu transportieren, wo sie verpackt und gelagert wurden, bis ein Versandauftrag einging. Der Lift hält nur im Erdgeschoss und im vierten Stock. Er ist zwar nicht annähernd so schnell wie neuere Modelle, aber Geschwindigkeit ist ja nicht alles.«
Egal wie lange es dauert, ein Lift, der direkt zu Onkels Büro führt, kann für die Rekruten nichts Gutes bedeuten.
»W enn ihr keine weiteren Fragen habt, dann lasst uns jetzt mit der Show beginnen«, sagt Onkel.
Er hat bestimmt recht. Das Ganze ist eine große Show. Und nach dem Leuchten in seinen Augen zu urteilen, wird sich jeden Moment der Vorhang heben.
»L adys und Gentlemen«, kündigt er an, »d ie nächste Generation der Time Catcher!«
Wir alle schauen durch das große Fenster und beobachten, wie zahlreiche Kinder in die Fabrikhalle strömen, gefolgt von fünf Männern. Erwachsene? Außer Onkel und Nassim hat es bei Edles für die Ewigkeit bisher niemanden gegeben, der älter als dreizehn Jahre alt ist. Ich dachte immer, Onkel würde Erwachsenen nicht genug trauen, um sie als Trainer anzustellen. Offenbar habe ich mich geirrt.
Die Kinder, es müssen über zwanzig sein, tragen leuchtende T-Shirts, Shorts und nagelneue Joggingschuhe. Selbst durch die Scheibe hindurch höre ich ihr Rufen und Lachen – dieselben Geräusche, die man fast immer hört, wenn eine Horde fünf- oder sechsjähriger Kinder versammelt ist. Sie rennen direkt auf die Hockeyschläger und Tennisbälle zu, die für sie bereitliegen.
Ich kann meinen Blick nicht von ihnen abwenden. Wo kommen sie alle her?
Abbie hat einen neutralen Gesichtsausdruck und Raoul ist so blass wie eh und je. Doch Marios Miene beunruhigt mich. Er steht direkt neben Onkel und sieht extrem selbstzufrieden aus.
»D ie Kinder, die ihr hier seht, habe ich aus vergangenen Jahrhunderten zu uns eingeladen, um an unserem neuen Projekt mit dem Namen Metamorphose teilzunehmen«, erklärt Onkel. »F alls jemand mit dem Begriff Metamorphose nicht vertraut ist: Damit wird gemeinhin eine sichtbare und plötzliche Veränderung in der äußeren Gestalt eines Tieres beschrieben. Es ist eine komplette Verwandlung, wie bei einem Schmetterling, der sich im Laufe dieses Prozesses vom Ei über die Raupe bis zur Puppe entwickelt, ehe er seine endgültige Gestalt annimmt.
Und wie den Schmetterlingen, liebe Freunde«, fährt er fort, »w ird es auch Edles für die Ewigkeit ergehen. Es ist an der Zeit, sich zu verwandeln.«
Er hält kurz inne und zieht seinen Hanfu zurecht. Mein Blick wandert zum Schwert, das in seiner Schärpe steckt. Seine Klinge sieht so scharf aus wie immer.
»D as Metamorphose-Projekt hat zwei Phasen«, erläutert Onkel. »I n Phase I sammeln wir Kinder aus verschiedenen Jahrhunderten und Kulturen ein, die an dem Projekt teilnehmen werden. Bei manchen, aber nicht bei allen, handelt es sich um Waisenkinder. Warum sollten Kinder aus ganz normalen Familien nicht auch die Chance erhalten, ihr Leben zu bereichern?«
Onkel formuliert es als Frage, doch in Wahrheit wird hier niemand gefragt. Ich knirsche mit den Zähnen. Waisenkinder zu entführen ist schlimm genug. Doch Kinder ihren
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