Die Time Catcher
wenigen Stunden wirst du dich an nichts mehr erinnern können, was vor dem gestrigen Abendessen passiert ist. Ich meine wirklich nichts. «
Mein Magen zieht sich zusammen. Warum zeigt er mir das?
Er lässt die Pille wieder in der Flasche verschwinden und legt sie zurück in die Schublade. Als sich unsere Augen kurz begegnen, habe ich das Gefühl, dass es noch einen ganz anderen Nassim gibt, von dem ich nichts weiß. Ich betrachte das gerahmte Foto auf seinem Schreibtisch und frage mich, wie lange Nassim seinen eigenen Vater nicht mehr gesehen hat.
»D ann hätten wir’s, Caleb. Ich notiere, dass dein Auftrag abgeschlossen ist. Bitte geh jetzt zu den anderen. In fünf Minuten brechen wir auf.« Seine Stimme ist flach, ausdruckslos.
Ich nicke und gehe zur Tür. Ich spüre seinen Blick in meinem Rücken, doch ich drehe mich nicht um.
25. Juni 2061, 7:37 Uhr
Trainingsgelände von Edles für die Ewigkeit
SoHo, New Beijing (früher New York City)
O bwohl ich Onkel schon davon reden gehört habe, ist dies mein erster Besuch unseres Trainingsgeländes. Während ich den anderen die Stufen hinauffolge, kommt mir spontan in den Sinn, dass dieser Ort es niemals in irgendeinen Reiseführer von New Beijing schaffen wird. Die Fensterscheiben sind geborsten, die Holzstufen rissig und die Mauern voller Graffiti. Und das ist erst die Fassade.
Auch Raoul, Lydia und Abbie machen große Augen. Mario hingegen scheint völlig unberührt, was ich als Hinweis darauf deute, dass er früher schon hier war, vielleicht sogar mehr als ein Mal.
Dennoch vermute ich, dass dieses Gebäude trotz aller Mängel Onkel teuer zu stehen gekommen ist. Schließlich ist das hier SoHo, nicht Queens.
Ich folge den anderen ins Haus. Nassim zufolge war dieses Gebäude vor hundert Jahren mal eine Schuhfabrik. Doch meiner Nase zufolge hätte dies auch gestern noch der Fall gewesen sein können. In dem riesigen Raum mit seinem grauen Betonboden und der hohen massiven Holzbalkendecke riecht es jedenfalls durchdringend nach Leder. Ich erblicke sogar ein paar verstaubte Metallmaschinen, die man in einer Ecke zusammengerückt hat und die bestimmt mal der Schuhproduktion gedient haben.
Auf Katzenpfoten schleichen wir umher, als wären wir eine Touristengruppe beim Besuch einer Kirche. Nassim scheucht uns in Richtung eines kleinen Raumes. Sobald ich ihn betrete, steigt mir ein strenger Geruch in die Nase. Vielleicht wurden hier die zurückgegebenen Schuhe aufbewahrt. Oder der Mief stammt von Raoul, der neben mir steht und einen Fuß halb aus seinem Schuh herausgeschoben hat.
Außer ein paar Bänken und einem großen Fenster, von dem aus man die Fabrikhalle überblicken kann, ist der Raum völlig leer.
Ich versuche, Abbie per Gedankenübertragung etwas mitzuteilen, doch sie blockt ab. Ich kann es nicht glauben. Das hat sie noch nie getan.
Ich bin so auf ihre Ablehnung konzentriert, dass ich zusammenzucke, als Onkel den Raum betritt.
»G uten Morgen zusammen. Ich freue mich sehr, dass ihr alle Zeit gefunden habt, mich zu besuchen.«
Als hätten wir eine Wahl.
Zweifellos hat Onkel sich wieder mal neu eingekleidet. Sein neues Outfit besteht aus einem roten Hanfu mit Nadelstreifen und Sandalen, sozusagen eine Mischung aus Wall Street und Tang-Dynastie. Doch wenn irgendjemand so was tragen kann, dann ist es Onkel.
»F ür diejenigen, die noch nie hier waren«, fährt Onkel fort, »d ieses Gebäude ist das neue Trainingszentrum von Edles für die Ewigkeit .«
Ich unterdrücke ein Gähnen und werfe den anderen einen verstohlenen Blick zu. Raoul scheint ein wenig nervös zu sein, Lydia prüft in der Fensterscheibe ihr Spiegelbild, und Mario sieht gelangweilt aus. Für eine Sekunde habe ich Augenkontakt mit Abbie, ehe sie den Blick abwendet.
»A lle Rekruten leben und arbeiten hier«, gibt Onkel bekannt. »D ies ist der Beobachtungsraum, von dem aus man die Trainingshalle im Auge hat, wie ich sie nenne. Hier findet ein Großteil der Ausbildung statt: Kurse für Grundlagen der Beutezüge: Taschendiebstahl, Verkleidung und dergleichen. Durch altersgerechte Holo-Filme lernen die Rekruten darüber hinaus verschiedene Epochen und Kulturen kennen. Aber hier geht es nicht allein um die Arbeit. Es wird auch eine Vielzahl an Sportwettkämpfen und lustigen Spielen veranstaltet, wie beispielsweise am Verkleidungstag, an dem alle Rekruten in die Rolle ihrer historischen Lieblingsfigur schlüpfen dürfen.«
Lustige Spiele. Verkleidungstag. Erinnerungen an meine eigene
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