Die Titanic und Herr Berg
Tüte auf der Müritz treibt. Coole Party, keine Gäste da, die man nicht mag, und die Musik ist auch nicht zu laut. Neben der Kinderzimmertür hängt ein Weihnachtskalender. Die Türchen sind nur bis zum Vierzehnten geöffnet. Ein Rentier hat eine offene Brust, in der das Negativ eines Tannenzweigs zu sehen ist. Die Schokolade ist weg. Das Kind ist auch weg. Ulrike ebenfalls. Nur ich bin da. Jippi! Ich gehe in die Küche. In der Spüle ist kein Abwasch. Es sind die Kleinigkeiten, auf die ein guter Detektiv achten muss. Kombiniere: Der Mörder hat noch abgewaschen, bevor er ging. Auf der Arbeitsfläche neben dem Waschbecken liegt eine Salami. Da versagt meine Kombinationsfähigkeit. Da frage ich mich doch, was ich mich da frage. Wurde Ulrike mit einer Salami bedroht? Ich finde das alles nicht lustig und lache ja auch nicht. Am Kühlschrank klebt ein Foto von Ulrike in Tibet. Sie lacht. An und für sich ist sie schön und sah schon immer jünger aus als sie ist. Das liegt daran, dass sie so viel lacht, was ja schon mal komisch ist. Was gibt’s schon zu lachen? Wenn Ulrike tatsächlich in Tibet war, kann es auch sein, dass sie wirklich geheiratet hat. Gleich geht die Tür auf und Ulrike wird von ihrem Mann über die Schwelle getragen. Sie wird sagen: «Oh, ich hätte mal ein bisschen aufräumen sollen.» Alles wird gut. Das ist doch sonst ein Scheißfilm. Der Film heißt: «Peter sieht einen Film, der heißt Peter sieht einen Film, der heißt Peter sieht einen Film und er weiß nicht, was er darin für eine Rolle spielt.» Der Film wird floppen, und es wird trotzdem eine Fortsetzung gedreht, nur weil ich so gut von der Rolle bin.
Ich gehe ins Bad, schiebe die Tür langsam auf, mit der Hand, in der ich den Blumenstrauß halte. Damit der Mörder, der gerade kackt und raucht, richtig was zum Lachen hat, wenn ich mit den Blümchen reinkomme, müsste ich die Salami noch in die andere Hand nehmen. Im Bad lacht keiner. Da sind Handtücher, Wäsche im Wäschekorb, alles wie eben verlassen. Kombiniere: Das junge Paar ist übereilig und spontan früher in die Flitterwochen gefahren. Wers glaubt, ist blöd und wird, so stehts geschrieben, selig, denn selig sind die geistig Armen, überhaupt die Armen … Ich will jetzt nicht an meine Arbeit denken. Warum ist das hier wie ein beknackter Hausbesuch? Ich habe Feierabend und was hat meine Arbeit bitteschön mit meinem Leben zu tun? Feierabend ist doch zum Feiern da, oder Jürgen, ist doch so!
Ich gehe noch ins Schlafzimmer, um auch dort weder Party noch Leiche vorzufinden. Auf dem Bett liegt eine Fernbedienung, wofür, ist nicht ersichtlich. Ich sehe keine Stereoanlage und keinen Fernseher. Alles ist besser versteckt als bei anderen Sozialhilfeempfängern. Vielleicht ist die Tochter ferngesteuert. Hat ja auch was. Ich weiß nicht, was ich hier soll. Normalerweise interessiere ich mich nicht für Ulrikes Leben. Ich wollte sehen, wie sie verheiratet ist, und mich dann mit einem guten Gewissen nie mehr blicken lassen. Jetzt klappt das mit dem guten Gewissen nicht, Scheiße dreimal gequirlte. Ich gehe zur Wohnungstür. Davor liegt ein aufgespannter Regenschirm. Nix wie raus. Ich kann nicht mehr. Im Hof wirft jemand Flaschen in den Glascontainer. Im Treppenhaus schreit eine Stimme: «Scherben bringen Glück. Scherben bringen Glück.» Da schreit nicht eine Stimme, da schreit Ulrikes Stimme.
Ich will tot umfallen, wie die Pflanze in der Stube. Mein Übertopf zerbricht. Ich bin doch nur ein Behälter mit Erde drin, da wächst nicht mal was. Scheiße, Scheiße, Scheiße, Hölle, Hölle, Hölle. Die Wohnungstür ist keine Wohnungstür, sondern eine Pressspanplatte, die mit einem Riegel zugehalten wird. Kein Schloss, keine Klinke, nichts, was sonst an einer Tür ist. So hinterlässt die Feuerwehr eine Wohnung, die sie aufgebrochen hat. Nix wie weg in einen anderen Irrsinn, höchste Feuerwehr. Zur Balkontür kann ich nicht raus. Ich habe nicht genug Mut zur Feigheit. Ich muss zu Ulrike, hilft ja nichts.
Ich mache die Behelfstür auf. Ulrike schreit nicht mehr. Es werden keine Flaschen mehr weggeworfen. Sie sitzt in einem weißen Strandkleid auf der Treppenstufe direkt vor der Wohnung und telefoniert: «Hier ist Ulrike Weber, die Tochter von Herrmann Palade, die Ehefrau von Kai Weber. Ich hätte gerne den Zuständigen für Sorgerechtsfälle gesprochen. Ich habe schon im Amtsgericht Weißensee angerufen. Oder den Bürgermeister.» Die ganze Zeit piept der Akku des Handys. Dann piept es nicht
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