Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Titanic und Herr Berg

Die Titanic und Herr Berg

Titel: Die Titanic und Herr Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Fuchs
Vom Netzwerk:
nicht. Sie heißt Tanja und ist alles, wovor du mich gewarnt hast, Mama. Auf Arbeit ist es wie immer und ich war gestern mit einem Azubi ein Bier trinken. Er heißt Lukas. Er hat so entzückende Ansichten über unser gemeinsames Schaffen, deins auch, unser aller eben. Er sagt, dass es keinen Unterschied macht, wo wir in der Gesellschaft unseren Dienst tun. Einer ist der Massenmörder und einer der Bäcker. Wir sind beim Sozialamt, und wenn er diese Arbeit nicht achten würde, dann sich selbst auch nicht. Prost.
    Dein Peter.

    Schlaf schön.
    Träum schön.
    Grüß Frau und Kinder.

    Ich rufe Heike an.

    Ich bin nach Prag gefahren, darum. Ich habe schnell gepackt, weil es schnell gehen musste. Ich habe auf meinen AB gesprochen, dass ich verreist bin, damit Peter weiß, wenn er anruft, dass er mich ein paar Tage vermissen muss. Ich wusste noch nicht genau, wie lange ich bleiben würde, wie die Füße tragen, wie das Geld reicht. Holger meinte, es sei billiger, ich würde die Rückfahrkarte in Prag kaufen, aber wenn das Geld alle ist, kann sein, es reicht nicht mehr für eine Rückfahrkarte. Ich verreise das erste Mal ohne Holger. Er hat mir beim Packen geholfen und ist mitgekommen, als ich die Zugkarten gekauft habe, aber ich musste alleine zum Zug. Ich musste mir alleine winken und alleine wissen, ob es der richtige Zug ist, in dem ich jetzt sitze. Draußen steht Prag dran und die Abfahrtszeit stimmt und ein Mann im Abteil telefoniert auf Tschechisch. Es ist mir sehr leicht Holger zu vertrauen, wenn er sagt: «Das ist der Zug», dann steige ich ein, ja, aber wenn ich mir sage: «Das ist der Zug, Tanja, kann sein, vertrau mir», dann vertraue ich mir nicht, nein.
    Ich sitze in einem Großraumabteil am Fenster und möchte, dass der Platz neben mir frei bleibt, oder dass sich ein netter Mann zu mir setzt. Kurz bevor der Zug losfährt, kurz bevor alle zurückbleiben sollen, kann ich aus dem Fenster sehen, wie eine Frau die Treppe hoch rennt, und ich weiß genau, dass sie den Platz neben mir haben will. Sie zieht ihren Rollkoffer hinterher. Sie ist sicher eine furchtbare Mutter oder gar keine. Sie zieht ihr Kind immer wie den Koffer hinterher oder sie hat kein Kind, nur einen Koffer. Sie verpasst den Zug nicht und verschnauft, als sie neben mir sitzt. Ich will sie nicht ansehen, weil sie kein netter Mann ist. Ich versuche, mir ein Augenwinkelbild von ihr zu machen. Ich habe früher gedacht, ich könnte spüren, wie jemand aussieht und fand den Mann neben mir sehr interessant, und dann war es eine Frau, und darum war ich lesbisch oder die Frau war lesbisch oder sie hatte ein Männerparfum dran. Jetzt sitzt eine Frau neben mir, die nicht gut riecht. Sie wird die ganze Fahrt lang nicht gut riechen. Ich beobachte sie, ohne hinzusehen. Sie liest drei Zeitungen nacheinander, immer nur Sport und Wissenschaft. Ich weiß nicht, was das für ein Beruf sein könnte. Sie wirkt reich, Rollkoffer. Ich könnte sie in der Fensterscheibe sehen, denn draußen ist es dunkel. Es ist Nacht, aber die Vorhänge sind zugezogen. Ich ziehe den Vorhang auf. Die Frau sieht spitzer aus, als ich dachte und ich schaue sie eine Weile an und dann mich. Ich bin schöner. Die Frau steigt in Dresden aus, weg. Ich habe die restliche Zugfahrt Zeit daran zu denken, dass Peter Kätzchen zu mir gesagt hat, in einer Situation, in der ich dumm war, aber niedlich. Ich roll mich ein und schlummer, Kätzchen. Wer bis zur Endstation fährt, kann ruhig schlafen, ja.

    Ich komme mitten in der Nacht in Prag an und soll Holger anrufen, dass alles gut ist. Ich will schnell aus dem Bahnhof raus, aber ich soll Holger anrufen. Ich suche ein Telefon und damit ich telefonieren kann, brauche ich Kronen und darum muss ich Geld tauschen, und damit ich Holger sagen kann, dass alles gut ist, muss ich eine Unterkunft finden. Wenn ich Holger zuerst anrufe, kann ich ihn fragen, was ich zuerst machen soll, aber zuerst muss ich Geld tauschen. Ich will woanders sein. Ich war lange genug auf Bahnhöfen, jahrelang, und wie bin ich damals weggekommen? Einfach rausgehen. Ich werde immer wieder angesprochen, ob ich Geld tauschen will oder ein Hotel suche. Ich halte meinen Rucksack vor der Brust, den Rucksack und die Brust schützend, gleichzeitig. Dann ist da endlich ein Schalter, an dem ich Geld wechseln kann, und ich bekomme noch einen Stadtplan geschenkt. Ich frage nach Unterkünften. Die Frau hinter dem Schalter schaut mich gar nicht an, ihr Gesicht ist die Uhrzeit, ihre Frisur ist

Weitere Kostenlose Bücher