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Die Titanic und Herr Berg

Die Titanic und Herr Berg

Titel: Die Titanic und Herr Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Fuchs
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in Berlin. Ich kann mir Geld von Milan borgen oder ich bleibe hier, bis Peter mich holt oder Katrin weg ist. Es könnte sein, es ist das letzte Frühstück hier. Heute steht die Vase mit der gelben Rose auf einem anderen Tisch, also sitze ich an einem anderen Tisch und trotzdem am selben wie immer, nämlich an dem, auf dem die gelbe Rose steht. Ich sitze direkt gegenüber der Eingangstür zum Essensraum. Die Tür ist mit Spiegelfolie beklebt. Ich sitze mir mit Dellen im Gesicht gegenüber, die ich gar nicht habe. Ich habe ein junges Gesicht, ich gehe für jedes Alter durch, das mir einfällt. Ich habe unruhig geschlafen, weil ich an Peter gedacht habe und mich dabei an Milans Rücken klammerte, auf dem kein einziges Haar wächst. Ich habe geträumt, meine Taschen sind voller Kleingeld. Ich will zu Peter und zu Katrin nicht. Ich will heute Käse und Kuchen nicht. Die Hörnchen sind trocken. Zur gleichen Zeit kommen die gleichen Gäste in den Essensraum und essen das Gleiche. Die meisten setzen sich an denselben Tisch, nur ich sitze woanders und trotzdem am selben Tisch, dem mit der gelben Rose. Ich bin auch dieselbe wie sonst, nur mit einem Liebhaber mehr, den habe ich lieb, der liegt noch im Bett, dem werde ich Saft mitbringen. Die zwei jungen Männer kommen heute nicht, schade. Ich wollte sie etwas fragen, wegen des Sammeltickets für das jüdische Museum. Gestern durfte Milan bestimmen, heute ich. Gestern waren wir auf dem Vysehrad. Abends waren wir sehr billig essen. Er hat bezahlt. Ich finde, dass Prag anders ist als früher und weiß nicht genau warum. Früher waren die Haare länger und offen, oder länger und geflochten, oder länger und verfilzt. Ich bilde mir ein, dass es viele Hippies gab und dass die auf ihrem Hintern auf dem Kopfsteinpflaster saßen. Es gab Schmetterlinge zum Anstecken zu kaufen, die habe ich gekauft und dann weiterverkauft. Die vielen Straßenmusiker sind weg, dafür ist an vielen Hauswänden ein Strich bis wohin die Vltava letztes Jahr stand. An einem Kiosk sind Fotos: Wasser und nur noch das Dach vom Kiosk. Die hellblaue Uhr auf der Säule schaut noch aus der Überschwemmung. Es war fünf vor zwölf. Ob im Tschechischen auch gesagt wird, dass es fünf vor zwölf ist, wenn es knapp wird. Quatsch eigentlich, eigentlich Quatsch, denn was ist schon nach fünf vor zwölf? Vier vor zwölf. Bei mir war es auch mal fünf vor zwölf und danach war ein neuer Tag, mehr nicht. Ich gehe zurück aufs Zimmer. Milan liegt auf dem Bauch mit einer Bisswunde am Hals, und auf seinen Schuhen, auf dem Fensterbrett draußen, sitzt ein Spatz.
    «Komm, steh auf!», sage ich zu Milan und setze mich auf die Bettkante. Er antwortet etwas ohne die Augen zu öffnen. Ich sage: «Doch, du musst aufstehen, ich will heute den jüdischen Friedhof sehen.» Wir haben angefangen, einfach miteinander zu reden. Ich habe ihm viel von mir erzählt, mehr als jedem anderen. Er weiß jetzt alles, was Katrin weiß, alles.
    Wir reden einfach. Manchmal muss ich lachen über das, was er erzählt, wenn er zeigt, wie groß das war, was ihm auf die Hand gefallen ist oder wie schnell etwas auf sein Gesicht zugerast ist. Dann zeigt er mir noch, wie er die Wunde abgebunden hat. Ich kenne alle seine Narben und alle Geschichten dazu. Er hat viele Narben, die meisten an den Armen, von Maschinen, die «Brrrrrrrr» machen.
    «Los steh auf. Wir kaufen heute dieses Sammelticket. Das müssen wir kaufen, wenn wir den jüdischen Friedhof sehen wollen. Du musst mir Geld borgen.»
    Ich gehe auf Klo, muss an Peter denken, weil er mal gesagt hat, dass das Frühstück nur den ersten Stuhlgang des Tages vorbereitet. Peter hat oft Recht. Ich sitze auf Klo und erinnere mich daran, wie im Kinderlexikon dargestellt war, wie Kacke entsteht. Vielleicht unter V wie Verdauung. Das Bild war sehr groß und zeigte ein aufgeschnittenes Kind, nur der Kopf war heil und aß einen Apfel. Die Abbildung zeigte, dass überall in mir kleine Männer mit blauen Latzhosen arbeiten. Sie fahren Kipplader und legen das Essen auf Fließbänder, dann nehmen sie das Essen im Magen auseinander und schnüren mit langen Tauen zu sechst an meinem Darm. Die Lüftung geht an. Milan macht draußen das Geräusch nach. Er macht gerne Geräusche, wahrscheinlich weil ich das verstehe. Kann sein, er macht sonst nie Geräusche. Kann sein, er ist sonst nicht schlecht im Bett.
    Als ich aus dem Bad komme, ist Milan fertig angezogen. Er sieht immer nett aus, schwarze Cordhose, beiger Pullover mit

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