Die Tochter der Dirne
Königs, für sein letztes, schmerzvolles Jahr.
„Nicht vom Parlament.“
„Nein, vom König selbst. Das Unterhaus hatte kein Recht, sie zu verurteilen. Ebenso wenig wie Ihr.“
„Ihr seid es, die ich verurteile. Ihr habt in Bezug auf Euren Geburtstag gelogen. Ich vermute auch, dass Ihr mir den eigentlichen Grund verschweigt, warum Ihr nicht in Eurem Gemach seid. Wie es scheint, bedeutet Euch die Wahrheit nichts.“
„Die Wahrheit?“ Er sprach von Wahrheit, als wäre sie wertvoller als Brot. Sie hielt sich zurück. Schon zuvor hatte sie viel zu offen gesprochen. Wenn sie ihn weiterhin verärgerte, würde er ihr Geheimnis niemals bewahren. „Vielleicht kennt jeder von uns eine andere Wahrheit.“
„Es gibt nur eine Wahrheit, Lady Solay, aber solltet Ihr Euch jemals dafür entscheiden, sie auszusprechen, so würde ich sie kaum erkennen.“ Seine Stimme bebte vor Abscheu.
„Jetzt erkennt Ihr sie nicht. Meine Mutter war dem König eine große Hilfe.“
Er schüttelte den Kopf. „Nicht einmal Ihr könnt das glauben.“ Dann gähnte er. „Ich gehe jetzt schlafen. Euch überlasse ich den Sternen und Euren Lügen.“
„Eines Tages, wenn ich Euch die Wahrheit sage, werdet Ihr sie glauben“, flüsterte sie, während er sich abwandte.
Fröstelnd und allein unter einem Himmel, der ihr dunkler schien denn je, verschränkte sie die Arme, um ihn nicht zurückzuhalten. Er ging die Treppe hinunter.
3. KAPITEL
Nach der Messe fand Solay nur eine Stunde Schlaf, dann verbrachte sie den Feiertag damit, Justin zu beobachten. Sie fragte sich, ob er vorhatte, ihre Lüge zu verraten. Erschöpft fand sie endlich Gelegenheit, sich zurückzuziehen, sobald der König das Festessen verlassen hatte.
Doch ihre Ruhe währte nur kurz. Vor Einbruch der Dunkelheit eilte Lady Agnes in den Raum, ein weißes Gewand und zwei kahle Zweige über dem Arm tragend. „Hier ist mein Kostüm für das lebende Bild.“ Sie hielt das einfache, fast weiße Hemd hoch und die Zweige über ihren Kopf. „Werde ich nicht wie ein Hirsch aussehen?“
Ein Klopfen an der Tür enthob Solay einer Antwort. Agnes würde eher einem gehörnten Engel gleichen als einem weißen Hirschen.
An der Tür überreichte ein Page, der eine Livree mit drei goldenen Kronen auf schwarzem Grund trug, Agnes eine Nachricht und lief davon. Sie las sie und schloss dann lächelnd die Tür.
„Ich brauche Euch, bitte übernehmt meine Rolle bei dem lebenden Bild“, flüsterte sie.
„Es wäre mir eine Ehre“, erwiderte Solay, während sie noch versuchte, die Livree des Pagen zuzuordnen, die ihr vage bekannt vorgekommen war. Wie kühn, das Fest des Königs wegen eines persönlichen Schäferstündchens zu versäumen. War es die Lust, die einem Menschen so den Kopf verdrehte?
„Rasch. Wir haben nicht viel Zeit.“ Agnes half Solay in das ungefärbte Gewand, zog ihr eine Leinenkapuze über das Gesicht und befestigte die Zweige auf ihrem Kopf.
„Sagt mir, was ich tun muss.“ Unter der Kapuze kniff Solay die Augen zusammen, um durch die Sehschlitze etwas zu erkennen.
„Beobachtet nur die anderen, die ebenfalls in Weiß gekleidet sind. Macht dasselbe wie sie und werft Euch am Ende demjenigen zu Füßen, der den König spielt.“ Agnes hörte auf, an dem Gewand zu zupfen, und spähte durch die Schlitze in der Kapuze, um Solay in die Augen zu sehen. „Sie müssen Euch für mich halten.“
Hinter der Kapuze lachte Solay. „Ich bin verkleidet und erst vor Kurzem an den Hof gekommen. Wer soll mich erkennen?“
„Gestern hat Euch jeder gesehen.“
Jeder hatte neugierig beobachtet, wie der König sie demütigte, das war es, was Agnes meinte. Und dann natürlich waren die Männer gekommen, um sie genau zu betrachten.
Aber nur Lord Justin hatte sie wirklich angesehen.
Agnes drückte Solays Hand. „Bitte nehmt nicht die Kapuze ab, egal, was geschieht. Zu viele wissen, welche Rolle ich spiele.“ Agnes öffnete die Tür einen Spaltbreit, blickte in alle Richtungen und schob Solay dann in den Gang hinaus. „Und danke“, flüsterte sie.
Solay schlich die Treppe in die Große Halle hinunter und stützte sich an der kalten Steinmauer ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Zweige schaukelten auf ihrem Kopf. Da sie unter der weißen Kapuze nicht zu erkennen war, fühlte sie sich seltsam frei, als sie in die Halle trat.
Bis sie Lord Justin sah.
Er hielt den Kopf gesenkt und stand mit drei anderen Männern zusammen. Natürlich war er nicht kostümiert. Dieser Mann
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