Die Tochter der Dirne
betrat und sich vor dem Altar verneigte, spürte er das Wissen um ihre Lüge und die Verzweiflung, von der sie herrührte, wie eine schwer verdauliche Mahlzeit in seinem Magen.
Abgesehen von dem Gefühl, dass er zum ersten Mal in seinem Leben die Wahrheit zurückhielt.
An der Seite von Lady Agnes verließ Solay nach der Mitternachtsmesse die Kapelle. Sie hatte einen steifen Hals, so sehr hatte sie sich bemüht, den König im Auge zu behalten. Sie hatte gekniet, wenn der König kniete, und sich erhoben, wenn er es tat, war seinen Bewegungen wie ein Schatten gefolgt.
Zumindest hatte sie das getan, bis Lord Justin ihr die Sicht versperrte. Er bewegte sich in seinem eigenen Rhythmus und achtete weder auf den König noch auf sonst jemanden. Nur einmal sah er sie an, mit einer Miene, die zu sagen schien: Könnt Ihr nicht einmal vor Gott Ihr selbst sein?
Sie fragte sich, mit welchem Recht er über sie urteilte, und fröstelte unter ihrem dünnen Umhang. Er wusste nichts über ihr Leben.
Aber er kannte bereits ein Geheimnis, das sie bedrohte. Und ihr ungeschickter Versuch, ihn zu küssen, hatte alles noch schlimmer gemacht.
Jeder wollte irgendetwas. Wenn sie herausfinden konnte, was er wollte, dann könnte sie ihm vielleicht helfen, es zu bekommen, im Austausch für sein Schweigen.
Agnes musste etwas wissen. „Lady Agnes“, begann sie. „Was wisst Ihr …“
„Ich brauche heute Nacht das Zimmer“, flüsterte Lady Agnes, ohne sie anzusehen.
Solay sehnte sich nach ein paar Stunden Ruhe zwischen dem Weihnachtsabend und den weihnachtlichen Frühmessen und öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch dann überlegte sie es sich anders. Deshalb hatte Agnes eingewilligt, den Raum mit ihr zu teilen. Sie brauchte jemanden, der sie deckte, wenn sie ein Rendezvous hatte.
Lady Agnes hatte eine kluge Entscheidung getroffen. Solay murmelte ihre Zustimmung.
Während die Menge wieder über den Burghof zurück zu den Gemächern strömte, fragte sie sich, wo sie die Nacht verbringen sollte. Sie blieb hinter den anderen zurück, schlüpfte um den Rundturm und hinüber zu dem Tor mit den beiden Türmen, das ihr Vater vor ihrer Geburt hatte bauen lassen. Vielleicht würde sie hier für die Nacht Schutz finden.
Sie ging hinein und begann, die Treppen hinaufzusteigen. Doch auf halbem Weg nach oben hörte sie aus der Dunkelheit unter sich ein Geräusch. Sie ging schneller. Schritte folgten ihr.
Wer konnte das sein? Selbst die Wachen hatten für den Weihnachtstag freibekommen.
Der Mann holte auf.
Sie raffte die Röcke und versuchte zu laufen, doch er war schneller. Als sie den Geruch von Zedernholz wahrnahm, schlug ihr Herz heftiger, und statt Furcht empfand sie jetzt etwas anderes, Gefährlicheres.
„Lady Solay, Ihr müsst Euch verlaufen haben.“
Sie drehte sich um und unterdrückte bei diesem Gedanken ein Lachen. „Ich kann mich nicht verlaufen, Lord Justin. Ich wurde hier geboren.“ Zu der Zeit, als sie noch beinahe eine Prinzessin gewesen war, war das Schloss ihr Spielplatz gewesen. Bei dieser Erinnerung schmerzte ihre Brust von dem Verlust, an den zu denken sie lange vermieden hatte.
„Hier geboren, aber Ihr scheint Euch weder an den Tag zu erinnern noch an den Unterschied zwischen diesem Turm und dem Wohnflügel.“ Er nahm ihren Arm. „Ich geleite Euch zu Eurer Kammer.“
„Nein!“ Sie riss sich los und drehte sich auf der schmalen Treppe vorsichtig um. Noch immer war er ihr viel zu nahe. „Es fällt mir schwer, zu schlafen“, sagte sie. Das stimmte seltsamerweise. Sie fragte sich, warum sie es ihm erzählt hatte.
„Also wandert Ihr wie ein Geist im Schloss umher?“
Sie suchte nach einer Ausrede. „Ich wollte die Sterne studieren, um mich darauf vorzubereiten, sie für den König zu deuten.“ Er würde nicht wissen, dass ein Horoskop mithilfe von Karten erstellt wurde und nicht durch Beobachtung des Himmels.
Er trat näher. „Dann werde ich Euch begleiten.“
Sie atmete aus. Es war ihr egal, ob er ihr glaubte. Zumindest war Agnes in Sicherheit.
Gemeinsam stiegen sie den Turm hinauf. Als sie aus dem dunklen Treppenhaus auf den Wehrgang hinaustraten, wehte ihnen kalte Luft entgegen. Nach der Dunkelheit im Turm schien die sternenklare Nacht beinahe hell, obwohl der Halbmond gerade genug Licht hergab, dass Solay die Umrisse des scharfkantigen Gesichts ihres Begleiters erkannte.
Mit einer Handbewegung wies Justin nach oben. „So, Mylady, seht zum Himmel hinauf und lest daraus ab, was Ihr wollt.“
Sie
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